BFH: Steuerrechtliche Folgen der Verpflichtung des Insolvenzverwalters zur Abgabe einer Freigabeerklärung (§ 35 Abs. 2 InsO n.F.)
- Hat der Insolvenzverwalter Kenntnis davon, dass der Insolvenzschuldner eine selbständige Tätigkeit ausübt, oder war eine solche Tätigkeit für ihn erkennbar, ist er in einem nach dem 30.06.2007 eröffneten Insolvenzverfahren gemäß § 35 Abs. 2 Satz 1 InsO verpflichtet, unverzüglich zu erklären, ob er die Tätigkeit aus der Insolvenzmasse freigibt oder nicht.
- Verletzt der Insolvenzverwalter diese Pflicht, führt sein pflichtwidriges Unterlassen dazu, dass Verbindlichkeiten "in anderer Weise" i.S. des § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO begründet werden (Fortführung der BFH-Urteile vom 18.5.2010, X R 11/09, BFH/NV 2010 S. 2114 = SIS 10 32 64; vom 1.6.2016, X R 26/14, BFHE 253 S. 518, BStBl 2016 II S. 848 = SIS 16 17 52; vom 6.6.2019, V R 51/17, BFHE 265 S. 294 = SIS 19 17 27).
- Eine formfrei mögliche Freigabeerklärung wirkt grundsätzlich erst ab ihrem Zugang beim Insolvenzschuldner (ex nunc). Die Überleitung der Vertragsverhältnisse, die der selbständigen Tätigkeit des Schuldners dienen, wirkt nicht auf Forderungen und Verbindlichkeiten zurück, soweit diese vor Wirksamwerden der Erklärung entstanden sind (Anschluss an das BGH-Urteil vom 21.2.2019, IX ZR 246/17, BGHZ 221 S. 212).
UStG § 1 Abs. 1 Nr. 1, § 13a Abs. 1 Nr. 1
InsO § 35 Abs. 2 und 3, § 55 Abs. 1 Nr. 1
BFH-Urteil vom 18.12.2019, XI R 10/19 (veröffentlicht am 28.5.2020)
Vorinstanz: Sächsisches FG vom 20.10.2017, 6 K 75/16
I. Die Beteiligten streiten darüber, ob die Duldung einer selbständigen Tätigkeit des Insolvenzschuldners durch den Insolvenzverwalter zu einer Masseverbindlichkeit i.S. des § 55 Abs. 1 Nr. 1 der Insolvenzordnung (InsO) führt und ob eine solche Duldung im Streitfall vorliegt.
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist Insolvenzverwalter über das Vermögen des … (Insolvenzschuldner --A--). A war im Jahr 2012 (Streitjahr) im Bereich des … unternehmerisch tätig.
Der Kläger erklärte in seiner Funktion als vorläufiger Insolvenzverwalter während des vorläufigen Insolvenzverfahrens im Insolvenzgutachten vom 16.10.2012, es liege Zahlungsunfähigkeit vor, und er regte an, das Regelinsolvenzverfahren zu eröffnen. Er führte u.a. aus, dass aufgrund der stabilen Auftragslage des A zu erwarten sei, dass diese Tätigkeit fortgeführt werden könne. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens werde die Tätigkeit allerdings aus der Masse freigegeben werden, so dass sich die Einnahmen der Masse auf den vom Schuldner an den Insolvenzverwalter abzuführenden Geldbetrag beschränkten. Um A eine weitere Ausübung der selbständigen Tätigkeit zu ermöglichen, werde der Kläger die Kleinwerkzeuge und Handmaschinen bei ihm belassen, werde aber mit diesem eine Verwertungsvereinbarung treffen, nach der er einen Betrag von 500 € an die Insolvenzmasse zahle.
Mit Beschluss des Amtsgerichts … (Insolvenzgericht) vom 22.10.2012 - … wurde das Insolvenzverfahren eröffnet. Der Kläger erklärte mit Schreiben an den Insolvenzschuldner vom 16.01.2013, er gebe die selbständige Tätigkeit … aus der Insolvenzmasse frei. Mit Schreiben vom 11.03.2013 wurde dies vom Kläger dem Insolvenzgericht mitgeteilt und vom Insolvenzgericht am 13.03.2013 veröffentlicht.
In der Umsatzsteuererklärung für das Streitjahr erklärte der Kläger Umsätze des A in Höhe von 0 €. A reichte keine eigene Umsatzsteuererklärung ein.
Im Umsatzsteuerbescheid für das Streitjahr vom 27.12.2013 setzte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) gegenüber dem Kläger Umsatzsteuer mit geschätzten Besteuerungsgrundlagen fest. Das FA ging davon aus, dass A im Streitjahr Umsätze ausgeführt habe, die gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO Masseverbindlichkeiten seien. Die Freigabe der unternehmerischen Tätigkeit des A aus der Insolvenzmasse sei erst am 16.01.2013 erfolgt, so dass die Umsatzsteuer des Jahres 2012 eine Masseverbindlichkeit sei. Der Einspruch blieb erfolglos (Einspruchsentscheidung vom 16.12.2015).
Das Sächsische Finanzgericht (FG) gab der Klage mit Urteil vom 20.10.2017 - 6 K 75/16 (Entscheidungen der Finanzgerichte 2020, 548) statt. Es entschied, dass es für den Fall, dass der Insolvenzverwalter keine Erklärung i.S. des § 35 Abs. 2 Satz 1 InsO abgebe, bei der früheren Rechtslage verbleibe. Die Einnahmen aus der selbständigen Tätigkeit fielen in die Insolvenzmasse, während die damit im Zusammenhang stehenden Ausgaben und Verbindlichkeiten sich nur dann gegen die Insolvenzmasse richteten, wenn die Voraussetzungen des § 55 Abs. 1 InsO erfüllt seien. Dies sei vorliegend zu verneinen.
Mit der Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts. Es macht geltend, § 35 Abs. 2 Satz 1 InsO begründe eine Handlungspflicht des Insolvenzverwalters, sich zur Frage der Freigabe zu erklären, die im Fall der Pflichtverletzung zur Einordnung der im Rahmen der geduldeten Tätigkeit begründeten Steuerverbindlichkeiten als Masseverbindlichkeiten i.S. des § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO führe.
Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Er trägt u.a. vor, er habe sich unmittelbar nach Insolvenzeröffnung bemüht, dem A die Freigabe mitzuteilen. Sein Einschreiben habe A zwar nicht abgeholt. Allerdings ergebe sich aus einem Telefonat, dass A die Freigabeerklärung erhalten haben müsse. Außerdem habe er von der selbständigen Tätigkeit des A keine Kenntnis gehabt.
II. Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Die bisherigen tatsächlichen Feststellungen des FG reichen nicht aus, um beurteilen zu können, ob der Kläger die unternehmerische Tätigkeit des A bereits im Streitjahr freigegeben hat.
1. Beide Beteiligte und das FG gehen zunächst zu Recht davon aus, dass A mit seinem Unternehmen Leistungen gegen Entgelt i.S. des § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) ausgeführt hat und er deshalb die Umsatzsteuer nach § 13a Abs. 1 Nr. 1 UStG schuldet (vgl. allgemein Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 07.04.2005 - V R 5/04, BFHE 210, 156, BStBl II 2005, 848, unter II.1., Rz 10).
2. Zur Festsetzung der Umsatzsteuer ist jedoch zu unterscheiden: Nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründete Steueransprüche gegen den Insolvenzschuldner, die als Masseverbindlichkeiten zu qualifizieren sind, sind gegenüber dem Insolvenzverwalter durch Steuerbescheid festzusetzen und von diesem vorweg aus der Insolvenzmasse zu befriedigen (vgl. BFH-Urteile vom 18.05.2010 - X R 60/08, BFHE 229, 62, BStBl II 2011, 429, Rz 35; vom 16.07.2015 - III R 32/13, BFHE 251, 102, BStBl II 2016, 251, Rz 19, m.w.N.). Sonstige nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründete Steueransprüche gegen den Insolvenzschuldner sind dagegen insolvenzfrei und gegen ihn selbst festzusetzen (vgl. BFH-Urteile vom 16.04.2015 - III R 21/11, BFHE 250, 7, BStBl II 2016, 29, Rz 11; in BFHE 251, 102, BStBl II 2016, 251, Rz 19, m.w.N.).
3. Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Umsatzsteuer aus der unternehmerischen Tätigkeit des A keine Masseverbindlichkeit i.S. des § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO sein kann. Die Vorentscheidung ist deshalb aufzuheben.
a) Nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO sind Masseverbindlichkeiten u.a. die Verbindlichkeiten, die durch Handlungen des Insolvenzverwalters oder in anderer Weise durch die Verwaltung, Verwertung und Verteilung der Insolvenzmasse begründet werden, ohne zu den Kosten des Insolvenzverfahrens zu gehören.
b) Nach der Rechtsprechung des BFH zur Rechtslage vor Inkrafttreten des § 35 Abs. 2 und 3 InsO erfüllte die bloße Duldung einer Tätigkeit des Schuldners durch den Insolvenzverwalter nicht das Tatbestandsmerkmal des Verwaltens der Insolvenzmasse i.S. des § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO (vgl. BFH-Urteile vom 21.07.2009 - VII R 49/08, BFHE 226, 97, BStBl II 2010, 13, Rz 17; vom 17.03.2010 - XI R 2/08, BFHE 229, 394, BStBl II 2015, 196, Rz 28; vom 08.09.2011 - V R 38/10, BFHE 235, 488, BStBl II 2012, 270, Rz 20). Umsatzsteuer aus einer unternehmerischen Tätigkeit nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens war nicht bereits deshalb eine Masseverbindlichkeit, weil der Schuldner dabei Massegegenstände verwendete (vgl. BFH-Urteile in BFHE 229, 394, BStBl II 2015, 196; in BFHE 235, 488, BStBl II 2012, 270). Ebenso entstand keine Masseverbindlichkeit, wenn der Insolvenzverwalter dem Insolvenzschuldner eine unternehmerische Tätigkeit durch Freigabe aus dem Insolvenzbeschlag ermöglichte (vgl. BFH-Urteil vom 01.09.2010 - VII R 35/08, BFHE 230, 490, BStBl II 2011, 336, Rz 22).
c) Für Insolvenzverfahren, die --wie hier-- nach dem 30.06.2007 eröffnet worden sind (Art. 103c des Einführungsgesetzes zur Insolvenzordnung), gelten allerdings die Abs. 2 und 3 des § 35 InsO, die eine Freigabe der unternehmerischen Betätigung ermöglichen und dabei auch Regelungen zur Information der Neugläubiger und des Geschäftsverkehrs vorsehen (vgl. BTDrucks 16/3227, S. 17).
aa) Diese lauten auszugsweise wie folgt:
"(2) Übt der Schuldner eine selbstständige Tätigkeit aus oder beabsichtigt er, demnächst eine solche Tätigkeit auszuüben, hat der Insolvenzverwalter ihm gegenüber zu erklären, ob Vermögen aus der selbstständigen Tätigkeit zur Insolvenzmasse gehört und ob Ansprüche aus dieser Tätigkeit im Insolvenzverfahren geltend gemacht werden können. … Auf Antrag des Gläubigerausschusses oder, wenn ein solcher nicht bestellt ist, der Gläubigerversammlung ordnet das Insolvenzgericht die Unwirksamkeit der Erklärung an.
(3) Die Erklärung des Insolvenzverwalters ist dem Gericht gegenüber anzuzeigen. Das Gericht hat die Erklärung und den Beschluss über ihre Unwirksamkeit öffentlich bekannt zu machen."
bb) Die Freigabeerklärung ist eine einseitige, empfangsbedürftige Willenserklärung, aus der sich unmissverständlich der Wille zu einem dauernden Verzicht auf die Massezugehörigkeit ergibt (vgl. BFH-Urteil vom 15.12.2009 - VII R 18/09, BFHE 228, 6, BStBl II 2010, 758, Rz 6; Urteil des Bundesgerichtshofs --BGH-- vom 07.12.2006 - IX ZR 161/04, Zeitschrift für das gesamte Insolvenz- und Sanierungsrecht --ZInsO-- 2007, 94, Rz 20; Urteil des Bundessozialgerichts --BSG-- vom 10.12.2014 - B 6 KA 45/13 R, BSGE 118, 30, Rz 18; Urteil des Bundesarbeitsgerichts --BAG-- vom 16.05.2013 - 6 AZR 556/11, BAGE 145, 163, Rz 50). Der Insolvenzverwalter ist zur Abgabe dieser Erklärung gemäß § 35 Abs. 2 Satz 1 InsO verpflichtet (BGH-Urteil vom 09.02.2012 - IX ZR 75/11, BGHZ 192, 322, Rz 20); dadurch soll zweifelsfrei klargestellt werden, ob im Rahmen der selbständigen Tätigkeit des Schuldners begründete Verbindlichkeiten Masseverbindlichkeiten darstellen oder nicht (BTDrucks 16/4194, S. 14). "Ansprüche gegen den Schuldner" i.S. des § 35 Abs. 2 InsO sind auch Verbindlichkeiten des Schuldners (vgl. BFH-Urteil vom 08.09.2011 - II R 54/10, BFHE 235, 1, BStBl II 2012, 149, Rz 11).
cc) Eine Frist für die Abgabe der Freigabeerklärung ist zwar gesetzlich nicht bestimmt. Der Insolvenzverwalter wird jedoch nach Auffassung des Gesetzentwurfs bei der Bestimmung des maßgeblichen Zeitpunkts die Haftungsregelung des § 60 InsO berücksichtigen müssen (vgl. BTDrucks 16/4194, S. 14, zu Nr. 12). Die Anzeige hat daher ohne schuldhaftes Zögern ("unverzüglich") zu erfolgen (vgl. BGH-Urteil in BGHZ 192, 322, Rz 24; s.a. Holzer in Kübler/Prütting/Bork, InsO, § 35 Rz 109 f.; Kexel in Graf-Schlicker, InsO, 4. Aufl., § 35 Rz 28; Andres in Nerlich/Römermann, InsO, § 35 Rz 94; Hirte/Praß in Uhlenbruck, Insolvenzordnung, 15. Aufl., § 35 Rz 94; Braun/Bäuerle, InsO, 7. Aufl., § 35 Rz 136). Ein Zeitraum von vier Wochen wird in der Regel als ausreichend angesehen, insbesondere dann, wenn der Insolvenzverwalter bereits Gutachter im Eröffnungsverfahren war (Ehlers, ZinsO 2014, 53, 55; Karsten Schmidt/Büterowe, InsO, 19. Aufl., § 35 Rz 52; s.a. Hirte/Praß in Uhlenbruck, a.a.O., § 35 Rz 94).
dd) Die dem Schuldner gegenüber abzugebende Freigabeerklärung sollte zwar zu Beweiszwecken schriftlich erfolgen (Kexel in Graf-Schlicker, a.a.O., § 35 Rz 28; Holzer in Kübler/Prütting/Bork, a.a.O., § 35 Rz 117). Gesetzlich vorgeschrieben ist die Schriftform jedoch --anders als z.B. in § 13 InsO-- nicht. Die Abgabe der Erklärung ist daher auch formfrei möglich (Ries in Kayser/Thole, Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 9. Aufl., § 35 Rz 65, 72; Haberzettl, Neue Zeitschrift für das Recht der Insolvenz und Sanierung 2017, 474, 477; Braun/Bäuerle, a.a.O., § 35 Rz 135; Hirte/Praß in Uhlenbruck, a.a.O., § 35 Rz 94; s.a. Oberlandesgericht Braunschweig, Urteil vom 24.08.2016 - 3 U 44/15, ZInsO 2016, 2348, Rz 56 zur konkludenten Freigabe). Die anschließende Veröffentlichung der Freigabe (§ 35 Abs. 3 InsO) ist keine Wirksamkeitsvoraussetzung und nur deklaratorischer Natur (vgl. BSG-Urteil in BSGE 118, 30, Rz 19, m.w.N.).
ee) Die Erklärung wirkt mit ihrem Zugang bei dem Insolvenzschuldner ex nunc (vgl. BAG-Urteil vom 21.11.2013 - 6 AZR 979/11, BAGE 146, 295, Rz 22). Sie verwirklicht sich ohne die Notwendigkeit zusätzlicher Erklärungen mit dem Zugang beim Insolvenzschuldner (BGH-Urteil in BGHZ 192, 322, Rz 30) und zerschneidet mit ihrem Zugang das rechtliche Band zwischen der Insolvenzmasse und der durch den Schuldner ausgeübten selbständigen Tätigkeit (BGH-Urteile in BGHZ 192, 322, Rz 30).
(1) Die von der Freigabe erfassten Gegenstände scheiden mit der Freigabe aus der Insolvenzmasse aus und unterliegen ebenso wie das insolvenzfreie Vermögen der uneingeschränkten Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis des Schuldners (vgl. BGH-Urteil vom 06.06.2019 - IX ZR 272/17, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 2019, 2156, Rz 44). Sie gehen unmittelbar ohne die Möglichkeit eines Zwischenerwerbs Dritter auf den Schuldner über (vgl. BGH-Urteil in NJW 2019, 2156, Rz 45). Durch die Freigabe wird eine von der Insolvenzmasse getrennte, den Neugläubigern aus der freigegebenen selbständigen Tätigkeit des Schuldners vorbehaltene Haftungsmasse geschaffen (vgl. BGH-Urteil in NJW 2019, 2156, Rz 46). Der Neuerwerb aus der selbständigen Tätigkeit haftet während des eröffneten Verfahrens damit nur den Neugläubigern, nicht den Altinsolvenzgläubigern (vgl. BGH-Urteile in NJW 2019, 2156, Rz 47 f.; vom 18.04.2013 - IX ZR 165/12, Monatsschrift für Deutsches Recht 2013, 1314, Rz 23).
(2) Forderungen, die vor Wirksamwerden der Freigabeerklärung entstanden sind, werden von der Freigabe gemäß § 35 Abs. 2 Satz 1 InsO hingegen auch dann nicht erfasst, wenn sie auf die bisherige selbständige Tätigkeit des Schuldners zurückgehen (vgl. BGH-Urteil vom 21.02.2019 - IX ZR 246/17, BGHZ 221, 212, Rz 18 ff.). Die Überleitung der Vertragsverhältnisse, die der selbständigen Tätigkeit des Schuldners dienen, wirkt nicht auf Forderungen und Verbindlichkeiten zurück, soweit diese vor Wirksamwerden der Erklärung entstanden sind (vgl. BGH-Urteil in BGHZ 221, 212, Rz 21).
(3) Die Anknüpfung an den Zugang der Freigabeerklärung bei dem Schuldner gestattet insoweit eine eindeutige zeitliche Differenzierung (vgl. BGH-Urteile in BGHZ 192, 322, Rz 30; in BGHZ 221, 212, Rz 22).
d) Der V. Senat des BFH hat, was das FG bei seiner Urteilsfindung nicht berücksichtigen konnte, mit Urteil vom 06.06.2019 - V R 51/17 (BFHE 265, 294, Rz 16 f. sowie Leitsatz), auf das zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen wird, entschieden, dass auch im Bereich der Umsatzsteuer Verbindlichkeiten "auf andere Weise" i.S. des § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO begründet werden, wenn eine Amtspflicht zum Tätigwerden bestand (vgl. auch BFH-Urteile vom 18.05.2010 - X R 11/09, BFH/NV 2010, 2114, Rz 23; vom 01.06.2016 - X R 26/14, BFHE 253, 518, BStBl II 2016, 848, Rz 41). Falls der Insolvenzverwalter seine Pflicht zur unverzüglichen Abgabe einer Erklärung nach § 35 Abs. 2 Satz 1 InsO verletzt, keine ausdrückliche Wahl trifft und damit die unternehmerische Tätigkeit des Insolvenzschuldners duldet, führt sein pflichtwidriges Unterlassen zum Entstehen von Masseverbindlichkeiten (vgl. auch Andres in Nerlich/Römermann, a.a.O., § 35 Rz 102 ff.; Karsten Schmidt/Büterowe, a.a.O., § 35 Rz 51). Ein pflichtwidriges Unterlassen des Insolvenzverwalters setzt somit Kenntnis oder zumindest Erkennbarkeit der selbständigen Tätigkeit voraus (vgl. BFH-Urteil in BFHE 265, 294, Rz 16).
e) Der erkennende Senat schließt sich dieser Auffassung an. Diese Sichtweise entspricht der unter II.3.c ee geschilderten ex-nunc-Wirkung des Zugangs einer Freigabeerklärung beim Insolvenzschuldner. Das Entstehen von Masseverbindlichkeiten knüpft danach bei Kenntnis von der selbständigen Tätigkeit des Insolvenzschuldners entweder an eine positive Erklärung i.S. des § 35 Abs. 2 Satz 1 InsO oder an das pflichtwidrige Unterlassen des Insolvenzverwalters, unverzüglich eine Erklärung i.S. des § 35 Abs. 2 Satz 1 InsO (gleich welchen Inhalts) abzugeben, an.
f) Auf dieser Grundlage ist das angefochtene Urteil aufzuheben. Die vom FG herangezogene frühere Rechtsprechung (II.3.b) gilt nach Maßgabe des § 35 Abs. 2 InsO nicht mehr unverändert fort. Vielmehr ist für das Entstehen von Masseverbindlichkeiten im Streitfall maßgeblich, ob der Kläger eine ihm bekannte oder für ihn erkennbare unternehmerische Tätigkeit des A geduldet und dadurch im Rechtssinne gebilligt hat, dass er die Freigabe nicht unverzüglich erklärt hat, daher die vor Zugang der Freigabeerklärung bei A begründeten Steuerverbindlichkeiten noch zur Insolvenzmasse gehören und eine spätere Freigabe nicht dazu führt, dass diese rückwirkend in das insolvenzfreie Vermögen des A übergeleitet werden.
4. Die Sache ist indes nicht spruchreif. Die bisherigen tatsächlichen Feststellungen des FG erlauben es dem Senat nicht, eine abschließende Sachentscheidung zu treffen.
a) Die bisherigen tatsächlichen Feststellungen reichen nicht aus, um beurteilen zu können, ob dem Kläger die selbständige Tätigkeit des A bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens am 22.10.2012 bekannt war oder er sie hätte erkennen können.
aa) Zwar spricht nach dem Inhalt des Insolvenzgutachtens vom 16.10.2012 und dem Akteninhalt viel dafür, dass der Kläger auch noch am 22.10.2012 von der Absicht des A, seine selbständige Tätigkeit fortzuführen, Kenntnis hatte: Aus dem Gutachten ergibt sich, dass der Kläger wusste, dass A selbständig tätig war. Für seine Kenntnis spricht weiter, dass der Kläger nach dem Inhalt des Gutachtens die weitere selbständige Tätigkeit des A durch Abschluss einer Verwertungsvereinbarung ermöglichen wollte und ihm nach Aktenlage keine belastbaren Anhaltspunkte dafür vorlagen, dass A --entgegen dieser Erkenntnisse-- die Absicht, seine selbständige Tätigkeit fortzuführen, bis zum 22.10.2012 aufgegeben und die Tätigkeit inzwischen eingestellt hatte.
bb) Allerdings wurde diese Kenntnis vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat ausdrücklich bestritten. Außerdem handelt es sich bei dem Unternehmen des A um ein "Ein-Mann-Unternehmen", bei dem nicht völlig ausgeschlossen ist, dass die unternehmerische Tätigkeit --entgegen einer zunächst bekundeten Absicht und trotz guter Auftragslage-- kurzerhand eingestellt wird. Schließlich hat das FG bisher nicht festgestellt, dass dem Kläger --anders als im Fall des BFH-Urteils in BFHE 265, 294-- die selbständige Tätigkeit des A von Anfang an bekannt war. Daher ist die Prüfung, ob der Kläger davon Kenntnis hatte oder dies hätte erkennen können, vom FG im zweiten Rechtsgang nachzuholen.
cc) Sollte der Kläger im zweiten Rechtsgang keine Umstände zur Überzeugung des FG nachweisen können, die die Annahme rechtfertigen, dass A zwischen dem 16.10.2012 und dem 22.10.2012 seine Absicht zur Fortführung der selbständigen Tätigkeit aufgegeben hatte, war dessen selbständige Tätigkeit für ihn erkennbar, was genügt (vgl. BFH-Urteil in BFHE 265, 294, Rz 16). Er war dann am 22.10.2012 erklärungspflichtig.
b) Die ggf. bestehende Erklärungspflicht des Klägers wurde nach den bisherigen tatsächlichen Feststellungen des FG frühestens am 16.01.2013 erfüllt.
aa) Der Kläger hat die Freigabe der Tätigkeit nicht bereits im Insolvenzgutachten vom 16.10.2012 erklärt.
Der Senat muss nicht entscheiden, ob der Kläger am 16.10.2012 als (noch) nicht Berechtigter bereits eine Freigabeerklärung hätte abgeben können, die mit seiner Berechtigung (am 22.10.2012) und ihrem Zugang beim Schuldner hätte wirksam werden können (vgl. dazu allgemein Hirte/Praß in Uhlenbruck, a.a.O., § 35 Rz 109 und § 22 Rz 58 zur Freigabe während der vorläufigen Insolvenzverwaltung allgemein); denn eine solche Erklärung hat er am 16.10.2012 nicht abgegeben. Der Kläger hat im Insolvenzgutachten vom 16.10.2012 lediglich angekündigt, dass er eine solche Erklärung nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens abgeben werde. Aus dem Insolvenzgutachten ergibt sich daher noch nicht unmissverständlich der Wille zu einem dauernden Verzicht auf die Massezugehörigkeit. Deshalb ist auch unerheblich, wann das Insolvenzgutachten A zugegangen ist.
bb) Das Nichtvorliegen von Masseverbindlichkeiten im Jahr 2012 kann auch nicht bereits aufgrund des Zugangs der Erklärung vom 16.01.2013 bejaht werden; denn diese hat --wie unter II.3.c ee dargelegt-- keine Rückwirkung auf das Streitjahr 2012. Sie erfolgte mehrere Monate nach Insolvenzeröffnung und daher nicht unverzüglich. Es ist folgerichtig, dass bei zunächst erfolgter Nichtabgabe der Erklärung die in der Zwischenzeit durch die selbständige Tätigkeit entstehenden Verbindlichkeiten grundsätzlich Masseverbindlichkeiten darstellen (MünchKommInsO/Peters, 3. Aufl., § 35 Rz 58).
c) Allerdings kann aufgrund des dem Senat vorliegenden Akteninhalts und des Vorbringens des Klägers im Revisionsverfahren nicht ausgeschlossen werden, dass nicht bereits eine frühere Freigabe erfolgt ist, die A zugegangen ist. Im Bericht an das Insolvenzgericht vom 14.01.2013 hat der Kläger u.a. ausgeführt, er habe die Tätigkeit des A mit Eröffnung des Verfahrens freigegeben. Auch dies wurde vom FG --nach seiner Rechtsauffassung konsequenterweise-- bisher noch nicht geprüft. Diese Prüfung ist ebenfalls nachzuholen.
d) Der Senat weist für das weitere Verfahren (ohne Bindungswirkung) auf folgende Erwägungen hin: Sofern der Kläger Kenntnis von der selbständigen Tätigkeit des A hatte oder diese hätte erkennen können, ist entscheidend, wann er gegenüber A in einer zulässigen Form die Freigabe erstmals unmissverständlich erklärt hat und wann diese Freigabeerklärung dem A zugegangen ist. Davon hat sich das FG aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens eine Überzeugung zu bilden. Für den Fall, dass --nach Beweiserhebung, z.B. durch Vernehmung des A-- Zweifel verbleiben, liegt im Streitfall die Beweislast beim Kläger, der sich auf die rechtzeitige Freigabe gegenüber A beruft. Eventuell verbleibende Zweifel gehen daher zu seinen Lasten.
e) Der Kläger und A haben außerdem die Gelegenheit, die nach § 18 Abs. 3 UStG erforderliche Umsatzsteuererklärung für das Jahr 2012 ggf. erstmals abzugeben bzw. ggf. zu berichtigen.
5. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
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