Vorinstanz: Tribunal de première instance de Liège (Belgien)
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 3 EUV, von Art. 107 und 267 AEUV, der Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Effektivität sowie von Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Casino de Spa SA sowie anderen Klägerinnen und dem belgischen Staat, SPF Finances (Föderaler Öffentlicher Dienst Finanzen, Belgien), über eine Entscheidung betreffend die für den Zeitraum vom 1. Juli 2016 bis zum 21. Mai 2018 geschuldete Mehrwertsteuer sowie Geldbußen und Verzugszinsen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:
…
i) Wetten, Lotterien und sonstige Glücksspiele mit Geldeinsatz unter den Bedingungen und Beschränkungen, die von jedem Mitgliedstaat festgelegt werden“.
Belgisches Recht
4 Art. 1 § 14 des Code de la taxe sur la valeur ajoutée (Moniteur belge, 17. Juli 1969, S. 7046) in der durch das Programmgesetz vom 1. Juli 2016 geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetzbuch) sah vor:
„Für die Anwendung des vorliegenden Gesetzbuches gelten als:
1. ‚Glücksspiele mit Geldeinsatz‘:
a) Spiele unter gleich welcher Bezeichnung, die Gelegenheit bieten, Geld- oder Sachpreise beziehungsweise ‑prämien zu gewinnen, wobei die Spieler weder zu Beginn noch im Verlauf noch am Ende des Spiels eingreifen können und die Gewinner ausschließlich durch das Los oder sonst wie zufallsbedingt bestimmt werden;
b) Spiele unter gleich welcher Bezeichnung, die Teilnehmern an einem Wettbewerb gleich welcher Art Gelegenheit bieten, Geld- oder Sachpreise beziehungsweise ‑prämien zu gewinnen, es sei denn, der Wettbewerb führt zum Abschluss eines Vertrags zwischen den Gewinnern und dem Veranstalter dieses Wettbewerbs;
2. ‚Lotterien‘: Gelegenheiten, infolge eines Kaufs von Lotterielosen Geld- oder Sachpreise beziehungsweise ‑prämien zu gewinnen, wobei die Gewinner durch das Los oder sonst wie zufallsbedingt bestimmt werden, ohne Einfluss darauf haben zu können.“
5 Art. 44 § 3 des Mehrwertsteuergesetzbuchs bestimmte:
„Steuerfrei sind ebenfalls:
13.
a) Lotterien;
b) sonstige Glücksspiele mit Geldeinsatz, ausgenommen Glücksspiele mit Geldeinsatz, die wie in Artikel 18 § 1 Absatz 2 Nr. 16 erwähnt auf elektronischem Wege bereitgestellt werden“.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
6 Casino de Spa und die anderen im Ausgangsverfahren klagenden Gesellschaften bilden die Mehrwertsteuereinheit Gaming Ardent und bieten Online-Spiele an.
7 Diese Tätigkeit war in Belgien von der Mehrwertsteuer befreit, bis zum 1. Juli 2016 Bestimmungen erlassen wurden, mit denen die Befreiung von der Mehrwertsteuer für Online-Glücksspiele mit Geldeinsatz, die keine Lotterien sind, aufgehoben wurde.
8 Diese Bestimmungen wurden von der Cour constitutionnelle (Verfassungsgerichtshof, Belgien) mit Entscheid vom 22. März 2018 wegen Verletzung der im belgischen Recht vorgesehenen Vorschriften über die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen dem Föderalstaat und den Regionen für nichtig erklärt. In diesem Entscheid prüfte der Verfassungsgerichtshof nicht die weiteren vor ihm geltend gemachten Klagegründe, insbesondere nicht diejenigen, die auf Verstöße gegen die Richtlinie 2006/112, gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität und gegen die Art. 107 und 108 AEUV gestützt wurden, und vertrat hierzu die Auffassung, dass diese Klagegründe nicht zu einer umfassenderen Nichtigerklärung der Bestimmungen führen könnten. Mit dem Entscheid erhielt der Verfassungsgerichtshof außerdem die Wirkungen der für nichtig erklärten Bestimmungen aufrecht und verwies dazu auf die budgetären und administrativen Schwierigkeiten, die die Erstattung der bereits entrichteten Steuern verursachen würden.
9 Mit Entscheid vom 8. November 2018 stellte der Verfassungsgerichtshof klar, dass die Wirkungen derjenigen Bestimmungen, mit denen die Befreiung von der Mehrwertsteuer für Online-Glücksspiele mit Geldeinsatz, die keine Lotterien seien, aufgehoben würden und die er mit seinem Entscheid vom 22. März 2018 für nichtig erklärt habe, für diejenigen Steuern aufrechterhalten würden, die für den Zeitraum vom 1. Juli 2016 bis zum 21. Mai 2018 gezahlt worden seien.
10 Im Anschluss an diese Entscheide wies die Mehrwertsteuereinheit Gaming Ardent in ihrer Mehrwertsteuererklärung für den Monat September 2019 im Teil über Mehrwertsteuerberichtigungen zu ihren Gunsten einen Betrag von 29 328 371,20 Euro aus, was dem Betrag der für den Zeitraum vom 1. Juli 2016 bis zum 21. Mai 2018 gezahlten Mehrwertsteuer entspricht, und beantragte die Erstattung eines Saldos von 15 581 402,06 Euro.
11 Am 5. Dezember 2019 erstellte die belgische Steuerverwaltung ein Protokoll, in dem sie darauf hinwies, dass dieser Antrag den Entscheiden des Verfassungsgerichtshofs vom 22. März 2018 und vom 8. November 2018 zuwiderlaufe und dass die Mehrwertsteuereinheit Gaming Ardent daher einen Betrag von 29 328 370,36 Euro an Mehrwertsteuer, Geldbußen und Zinsen schulde.
12 Auf eine von der Mehrwertsteuereinheit Gaming Ardent gegen dieses Protokoll eingelegte Beschwerde hin wurden die gegen sie verhängten Geldbußen herabgesetzt.
13 Am 12. Oktober 2020 erhob die Mehrwertsteuereinheit Gaming Ardent beim Tribunal de première instance de Liège (Gericht erster Instanz Lüttich, Belgien), dem vorlegenden Gericht, Klage gegen eine Entscheidung vom 14. August 2020: Diese betraf die für den Zeitraum vom 1. Juli 2016 bis zum 21. Mai 2018 geschuldete Mehrwertsteuer sowie Geldbußen und Verzugszinsen. Die genannte Mehrwertsteuereinheit beruft sich hilfsweise auf die Haftung des belgischen Staats für einen Fehler des Verfassungsgerichtshofs, da dieser entschieden habe, die Wirkungen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bestimmungen aufrechtzuerhalten, und äußerst hilfsweise auf die Haftung des belgischen Staats infolge eines Fehlers des Gesetzgebers.
14 Vor diesem Hintergrund hat das Tribunal de première instance de Liège beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens
15 Im Anschluss an die Verlesung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 25. April 2024 haben die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens mit Schreiben, das am 30. Mai 2024 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beantragt.
16 Zur Stützung dieses Antrags machen die genannten Klägerinnen geltend, in den Schlussanträgen werde auf eine Rechtsfrage eingegangen, die die Anerkennung einer unmittelbaren Wirkung von Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 betreffe. Diese Rechtsfrage habe das vorlegende Gericht dem Gerichtshof nicht unterbreitet, und die Klägerinnen hätten daher insoweit nicht Stellung nehmen können. Sie bringen auch zum Ausdruck, dass sie den Schlussanträgen der Generalanwältin in diesem Punkt nicht zustimmten.
17 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof nach Art. 83 seiner Verfahrensordnung jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen kann, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält oder wenn ein nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist.
18 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und die Verfahrensordnung keine Möglichkeit für die Parteien vorsehen, eine Stellungnahme zu den Schlussanträgen des Generalanwalts einzureichen (Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
19 Außerdem stellt der Generalanwalt nach Art. 252 Abs. 2 AEUV öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen, in denen nach der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union seine Mitwirkung erforderlich ist. Der Gerichtshof ist weder an diese Schlussanträge noch an ihre Begründung durch den Generalanwalt gebunden. Dass eine Partei nicht mit den Schlussanträgen des Generalanwalts einverstanden ist, kann folglich unabhängig von den darin untersuchten Fragen für sich genommen kein Grund sein, der die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens rechtfertigt (Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
20 Im vorliegenden Fall ist der Gerichtshof nach Anhörung der Generalanwältin der Auffassung, dass er über alle entscheidungserheblichen Angaben verfügt.
21 Insbesondere ist in Anbetracht der in Rn. 19 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung festzustellen, dass das vorlegende Gericht notwendigerweise – entgegen dem, was die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens zur Stützung ihres Antrags auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens vorgebracht haben – den Gerichtshof insofern zur Anerkennung einer unmittelbaren Wirkung dieser Bestimmung befragt hat, als sich die vierte Vorlagefrage auf die Wirkungen bezieht, die Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 vor einem nationalen Gericht zuzuerkennen sind. Daraus folgt, dass die Klägerinnen die Gelegenheit hatten, ihren Standpunkt hierzu geltend zu machen.
22 Folglich ist das mündliche Verfahren nicht wiederzueröffnen.
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten und zur zweiten Frage
23 Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die den Online-Kauf von Lotterielosen einerseits und die Teilnahme an sonstigen online angebotenen Glücksspielen mit Geldeinsatz andererseits unterschiedlich behandelt, indem sie Letztere von der für Erstere geltenden Mehrwertsteuerbefreiung ausschließt.
24 Nach Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 sind Wetten, Lotterien und sonstige Glücksspiele mit Geldeinsatz unter den Bedingungen und Beschränkungen, die von jedem Mitgliedstaat festgelegt werden, von der Mehrwertsteuer befreit.
25 Schon aus der Formulierung dieser Bestimmung ergibt sich, dass sie den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Befreiung oder Besteuerung der betreffenden Umsätze einen weiten Gestaltungsspielraum eingeräumt hat, da sie ihnen gestattet, die Bedingungen und Beschränkungen festzulegen, von denen die Gewährung der Befreiung abhängig gemacht werden kann (vgl. entsprechend Urteil vom 10. November 2011, The Rank Group, C‑259/10 und C‑260/10, EU:C:2011:719, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).
26 Außerdem hat der Gerichtshof festgestellt, dass es den Mitgliedstaaten in Ausübung ihrer Befugnis, Bedingungen und Beschränkungen für die in dieser Bestimmung vorgesehene Mehrwertsteuerbefreiung festzulegen, gestattet ist, nur bestimmte Glücksspiele mit Geldeinsatz von dieser Steuer zu befreien (Urteil vom 24. Oktober 2013, Metropol Spielstätten, C‑440/12, EU:C:2013:687, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
27 Machen die Mitgliedstaaten jedoch von der Befugnis, die Bedingungen und Grenzen der Befreiung festzulegen und damit Umsätze der Mehrwertsteuer zu unterwerfen oder nicht, nach dieser Bestimmung Gebrauch, müssen sie den dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem zugrunde liegenden Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachten (Urteil vom 10. November 2011, The Rank Group, C‑259/10 und C‑260/10, EU:C:2011:719, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
28 Nach ständiger Rechtsprechung lässt es der Grundsatz der steuerlichen Neutralität insbesondere nicht zu, gleichartige und deshalb miteinander in Wettbewerb stehende Waren oder Dienstleistungen hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln (Urteil vom 10. November 2011, The Rank Group, C‑259/10 und C‑260/10, EU:C:2011:719, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).
29 Bei der Beantwortung der Frage, ob zwei Dienstleistungen gleichartig sind, ist in erster Linie auf die Sicht des Durchschnittsverbrauchers abzustellen, wobei auf unbedeutenden Unterschieden beruhende künstliche Unterscheidungen vermieden werden müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. November 2011, The Rank Group, C‑259/10 und C‑260/10, EU:C:2011:719, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).
30 Zwei Dienstleistungen sind daher gleichartig, wenn sie ähnliche Eigenschaften haben und beim Verbraucher nach einem Kriterium der Vergleichbarkeit in der Verwendung denselben Bedürfnissen dienen und wenn die bestehenden Unterschiede die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers, die eine oder die andere dieser Dienstleistungen zu wählen, nicht erheblich beeinflussen (Urteil vom 10. November 2011, The Rank Group, C‑259/10 und C‑260/10, EU:C:2011:719, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Mit anderen Worten ist zu prüfen, ob die fraglichen Leistungen aus der Sicht des Durchschnittsverbrauchers austauschbar sind. In diesem Fall könnte nämlich eine im Hinblick auf die Mehrwertsteuer unterschiedliche Behandlung die Wahl des Verbrauchers beeinflussen, was somit auf einen Verstoß gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität hindeuten würde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Februar 2022, Finanzamt A, C‑515/20, EU:C:2022:73, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Insoweit sind nicht nur die Unterschiede zu berücksichtigen, die die Eigenschaften der fraglichen Leistungen sowie deren Verwendung betreffen und die daher naturgemäß mit diesen Leistungen verbunden sind, sondern auch die Unterschiede des Kontexts, in dem die Leistungen erbracht werden, soweit diese kontextuellen Unterschiede in den Augen des Durchschnittsverbrauchers zu einer Unterscheidbarkeit im Hinblick auf die Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse führen können und daher geeignet sind, seine Wahl zu beeinflussen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. September 2021, Phantasialand, C‑406/20, EU:C:2021:720, Rn. 41 und 42 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
33 So hat der Gerichtshof entscheiden, dass kulturelle Faktoren wie Gebräuche oder Traditionen im Rahmen einer solchen Prüfung relevant sein können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. September 2021, Phantasialand, C‑406/20, EU:C:2021:720, Rn. 44).
34 Außerdem hat der Gerichtshof in Bezug auf Glücksspiele klargestellt, dass Unterschiede bei den Mindest- und Höchsteinsätzen und ‑gewinnen, den Gewinnchancen, den verfügbaren Formaten und der Möglichkeit von Interaktionen zwischen dem Spieler und dem Spiel erheblichen Einfluss auf die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers haben können, da die Anziehungskraft von Glücksspielen mit Geldeinsatz in erster Linie auf der Möglichkeit eines Gewinns beruht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. November 2011, The Rank Group, C‑259/10 und C‑260/10, EU:C:2011:719, Rn. 57).
35 Solche Aspekte können daher relevant sein, wenn es darum geht, zu bestimmen, ob der Online-Kauf von Lotterielosen und die Teilnahme an sonstigen online angebotenen Glücksspielen mit Geldeinsatz ihrer Art nach gleich sind.
36 Zwar ist es allein Sache des vorlegenden Gerichts, im Hinblick auf die in den Rn. 28 bis 35 des vorliegenden Urteils angestellten Erwägungen die Gleichartigkeit dieser Dienstleistungen zu beurteilen, doch ist es Aufgabe des Gerichtshofs, ihm insoweit zweckdienliche Hinweise zu geben, damit das vorlegende Gericht über den bei ihm anhängigen Rechtsstreit entscheiden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Juni 2024, GEMA, C‑135/23, EU:C:2024:526, Rn. 32).
37 Insbesondere ist darauf hinzuweisen, dass kulturelle Faktoren sowie Unterschiede bei den Mindest- und Höchsteinsätzen und ‑gewinnen sowie bei den Gewinnchancen in den Augen des Durchschnittsverbrauchers zu einer Unterscheidbarkeit von Lotterien und sonstigen Glücksspielen mit Geldeinsatz führen können.
38 Außerdem geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass nach der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung zum einen die Gewinner bei Lotterien im Sinne dieser Regelung im Unterschied zu sonstigen Glücksspielen mit Geldeinsatz – bei denen Fähigkeiten des Spielers wie Geschick oder Kenntnisse einen Einfluss auf die Gewinnwahrscheinlichkeit haben können – allein durch Zufall bestimmt werden, ohne dass ihre Fähigkeiten insoweit irgendeinen Einfluss haben könnten. Zum anderen kann in diesem Rahmen, da der Gewinner an einem bestimmten Tag ermittelt wird, die Zeitspanne zwischen dem Kauf des Lotterieloses und dem Ergebnis erheblich sein.
39 Lotterien, wie sie von der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung definiert werden, sind somit dadurch gekennzeichnet, dass die Bestimmung der Gewinner nach einer Wartezeit erfolgt und dass zugleich die Fähigkeiten der Spieler keinerlei Einfluss auf den Ausgang des Spiels ausüben.
40 Solche objektiven Unterschiede scheinen geeignet zu sein, die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers, die eine oder die andere Spielkategorie zu wählen, erheblich zu beeinflussen; dies zu prüfen ist allerdings Sache des vorlegenden Gerichts.
41 Indessen ist darauf hinzuweisen, dass es für die Beurteilung der Vergleichbarkeit dieser Spielkategorien auf die Identität der Anbieter, auf die Rechtsform, in der diese ihren Tätigkeiten nachgehen, auf die Lizenzkategorien, zu denen die betreffenden Spiele gehören, und auf die hinsichtlich Aufsicht und Regulierung anwendbare rechtliche Regelung grundsätzlich nicht ankommt (vgl. entsprechend Urteil vom 10. November 2011, The Rank Group, C‑259/10 und C‑260/10, EU:C:2011:719, Rn. 46 und 51).
42 Auch der Umstand, dass Lotterien ausdrücklich von dieser Bestimmung erfasst werden, und die Ziele, die mit der betreffenden nationalen Regelung verfolgt werden, sind im Rahmen einer solchen Prüfung grundsätzlich unerheblich, da diese Aspekte nicht geeignet erscheinen, in den Augen des Durchschnittsverbrauchers zu einer Unterscheidbarkeit im Hinblick auf die Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse zu führen.
43 In Anbetracht der in den Rn. 28 bis 42 des vorliegenden Urteils dargelegten Erwägungen scheinen die in diesen Randnummern berücksichtigten Leistungen auf den ersten Blick nicht gleichartig zu sein, was bedeuten würde, dass eine Ungleichbehandlung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität vereinbar wäre. Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, konkret im Hinblick auf alle relevanten Aspekte zu prüfen, ob die Regelung gegen diesen Grundsatz verstößt.
44 Folglich ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, dass Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung, die den Online-Kauf von Lotterielosen einerseits und die Teilnahme an sonstigen online angebotenen Glücksspielen mit Geldeinsatz andererseits unterschiedlich behandelt, indem sie Letztere von der für Erstere geltenden Mehrwertsteuerbefreiung ausschließt, nicht entgegensteht, sofern die objektiven Unterschiede zwischen diesen beiden Kategorien von Glücksspielen mit Geldeinsatz geeignet sind, die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers, die eine oder die andere Spielkategorie zu wählen, erheblich zu beeinflussen.
Zur dritten Frage
45 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, wie er in Art. 4 Abs. 3 EUV verankert ist, in Verbindung mit Art. 267 AEUV, der Richtlinie 2006/112 und dem Effektivitätsgrundsatz dahin auszulegen ist, dass ein nationales Gericht, dessen Entscheidungen nicht mit einem Rechtsmittel angefochten werden können, auf eine nationale Vorschrift zurückgreifen darf, die es dazu ermächtigt, die Wirkungen nationaler Bestimmungen, die es für mit höherrangigen Normen seines nationalen Rechts unvereinbar befunden hat, aufrechtzuerhalten, ohne das Vorbringen zu prüfen, diese Bestimmungen seien auch mit der genannten Richtlinie unvereinbar.
46 Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren (Urteil vom 16. Mai 2024, Toplofikatsia Sofia [Begriff des Wohnsitzes des Beklagten], C‑222/23, EU:C:2024:405, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).
47 Zu diesem Zweck kann der Gerichtshof aus dem gesamten vom nationalen Gericht vorgelegten Material, insbesondere der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Normen und Grundsätze des Unionsrechts herausarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Ausgangsrechtsstreits einer Auslegung bedürfen (Urteil vom 21. März 2024, Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Bydgoszczy [Berichtigungsmöglichkeit bei unrichtigem Steuersatz], C‑606/22, EU:C:2024:255, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).
48 Im vorliegenden Fall betrifft die dritte Frage zwar die Verpflichtungen, die das Unionsrecht einem nationalen Gericht auferlegt, dessen Entscheidungen nicht mit einem Rechtsmittel angefochten werden können. Aus der Vorlageentscheidung geht jedoch hervor, dass diese Frage von einem erstinstanzlichen nationalen Gericht gestellt wird, das sich fragt, welche Folgerungen sich ergeben, wenn eine nationale Bestimmung, die vom Verfassungsgerichtshofs seines Mitgliedstaats aufgrund eines Verstoßes gegen höherrangige Normen seines nationalen Rechts für nichtig erklärt wurde und deren Wirkungen vom Verfassungsgerichtshofs aufrechterhalten wurden, möglicherweise mit Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität unvereinbar ist.
49 Es zeigt sich mithin in diesem Zusammenhang, dass das vorlegende Gericht im Ausgangsverfahren nicht unmittelbar über das Vorgehen des Verfassungsgerichtshofs seines Mitgliedstaats zu befinden hat, sondern in einem Rechtsstreit, der zwischen einem Steuerpflichtigen und einer Steuerverwaltung über den Betrag der von diesem Steuerpflichtigen geschuldeten Mehrwertsteuer geführt wird, gegebenenfalls die Folgerungen daraus ziehen muss, dass die genannte nationale Bestimmung mit dem Unionsrecht unvereinbar ist.
50 Unter diesen Umständen ist die dritte Vorlagefrage dahin umzuformulieren, dass das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen möchte, ob der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, wie er in Art. 4 Abs. 3 EUV verankert ist, und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts es dem nationalen Gericht gebieten, nationale Bestimmungen, die für mit Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität unvereinbar befunden wurden, unangewendet zu lassen, ohne dass hierbei das Vorliegen eines Urteils des nationalen Verfassungsgerichtshofs, mit dem die Wirkungen dieser nationalen Bestimmungen aufrechterhalten wurden, von Belang wäre.
51 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die Mitgliedstaaten gemäß dem in Art. 4 Abs. 3 EUV vorgesehenen Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet, die rechtswidrigen Folgen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht zu beheben; diese Verpflichtung obliegt im Rahmen seiner Zuständigkeiten jedem Organ des betreffenden Mitgliedstaats (Urteil vom 5. Oktober 2023, Osteopathie Van Hauwermeiren, C‑355/22, EU:C:2023:737, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).
52 Stellen die Behörden des betreffenden Mitgliedstaats fest, dass eine nationale Regelung mit dem Unionsrecht unvereinbar ist, müssen sie folglich, auch wenn ihnen die Wahl der zu ergreifenden Maßnahmen verbleibt, dafür sorgen, dass das nationale Recht so schnell wie möglich mit dem Unionsrecht in Einklang gebracht und den Rechten, die dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsen, die volle Wirksamkeit verschafft wird (Urteil vom 5. Oktober 2023, Osteopathie Van Hauwermeiren, C‑355/22, EU:C:2023:737, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).
53 Außerdem ist ein nationales Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat und eine nationale Regelung nicht im Einklang mit den Anforderungen des Unionsrechts auslegen kann, nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verpflichtet, für die volle Wirksamkeit der Anforderungen des Unionsrechts in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – nationale Regelung oder Praxis, die einer Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung entgegensteht, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser nationalen Regelung oder Praxis auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).
54 Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 hat unmittelbare Wirkung (vgl. entsprechend Urteil vom 10. November 2011, The Rank Group, C‑259/10 und C‑260/10, EU:C:2011:719, Rn. 69 und die dort angeführte Rechtsprechung).
55 Zwar lässt diese Bestimmung, wie in Rn. 25 des vorliegenden Urteils ausgeführt, den Mitgliedstaaten einen gewissen Gestaltungsspielraum beim Erlass einer Regelung, die die Bedingungen und Beschränkungen der in dieser Bestimmung vorgesehenen Mehrwertsteuerbefreiung festlegt.
56 Allerdings schließt der Umstand, dass die Mitgliedstaaten nach einer Richtlinienbestimmung über einen Gestaltungsspielraum verfügen, nicht aus, dass gerichtlich überprüft werden kann, ob die nationalen Behörden diesen Gestaltungspielraum überschritten haben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. Oktober 2014, Traum, C‑492/13, EU:C:2014:2267, Rn. 47, vom 8. März 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Unmittelbare Wirkung], C‑205/20, EU:C:2022:168, Rn. 30, und vom 27. April 2023, M.D. [Verbot der Einreise nach Ungarn], C‑528/21, EU:C:2023:341, Rn. 98).
57 Grenzen dieses Gestaltungsspielraums ergeben sich u. a. aus dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität. So hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass sich ein Mitgliedstaat dann, wenn die Bedingungen oder Beschränkungen, von denen er die Mehrwertsteuerbefreiung für Glücksspiele mit Geldeinsatz abhängig macht, gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität verstoßen, nicht auf diese Bedingungen oder Beschränkungen berufen kann, um dem Veranstalter solcher Glücksspiele die Steuerbefreiung, auf die dieser nach der Richtlinie 2006/112 einen Rechtsanspruch hat, zu verweigern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. November 2011, The Rank Group, C‑259/10 und C‑260/10, EU:C:2011:719, Rn. 68).
58 Zudem kann allein der Gerichtshof in Ausnahmefällen und aus zwingenden Erwägungen der Rechtssicherheit eine vorübergehende Aussetzung der Verdrängungswirkung herbeiführen, die eine unionsrechtliche Vorschrift gegenüber mit ihr unvereinbarem nationalem Recht ausübt. Eine solche zeitliche Beschränkung der Wirkungen einer Auslegung des Unionsrechts durch den Gerichtshof kann nur in demjenigen Urteil selbst vorgenommen werden, in dem über die begehrte Auslegung entschieden wird (Urteil vom 5. Oktober 2023, Osteopathie Van Hauwermeiren, C‑355/22, EU:C:2023:737, Rn. 30 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
59 Der Vorrang und die einheitliche Anwendung des Unionsrechts würden beeinträchtigt, wenn nationale Gerichte befugt wären, nationalen Bestimmungen, sei es auch nur vorübergehend, Vorrang vor dem Unionsrecht einzuräumen, gegen das sie verstoßen (Urteil vom 5. Oktober 2023, Osteopathie Van Hauwermeiren, C‑355/22, EU:C:2023:737, Rn. 31 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
60 Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verpflichtet somit das nationale Gericht, nationale Bestimmungen unangewendet zu lassen, für die entschieden wurde, dass sie unmittelbar wirkendem Unionsrecht entgegenstehen, auch wenn der nationale Verfassungsgerichtshof zuvor entschieden hat, den Zeitpunkt, zu dem diese für verfassungswidrig erklärten Bestimmungen ihre Verbindlichkeit verlieren, zu verschieben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. November 2009, Filipiak, C‑314/08, EU:C:2009:719, Rn. 85).
61 Der Gerichtshof hat auch klargestellt, dass das nationale Gericht, das von der ihm nach Art. 267 Abs. 2 AEUV eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, durch die Auslegung der fraglichen Vorschriften durch den Gerichtshof für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens gebunden ist und gegebenenfalls von der Beurteilung des höheren Gerichts abweichen muss, wenn es angesichts dieser Auslegung der Auffassung ist, dass sie nicht dem Unionsrecht entspricht (Urteil vom 5. Oktober 2010, Elchinov, C‑173/09, EU:C:2010:581, Rn. 30).
62 Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, wie er in Art. 4 Abs. 3 EUV verankert ist, und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts es dem nationalen Gericht gebieten, nationale Bestimmungen, die für mit Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität unvereinbar befunden wurden, unangewendet zu lassen, ohne dass hierbei das Vorliegen eines Urteils des nationalen Verfassungsgerichtshofs, mit dem die Wirkungen dieser nationalen Bestimmungen aufrechterhalten wurden, von Belang wäre.
Zur vierten Frage
63 Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, wie er in Art. 4 Abs. 3 EUV verankert ist, in Verbindung mit Art. 267 AEUV, der Richtlinie 2006/112, dem Effektivitätsgrundsatz und den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts, insbesondere dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität, dahin auszulegen ist, dass er dem Steuerpflichtigen einen Anspruch auf Erstattung des Betrags der in einem Mitgliedstaat unter Verstoß gegen Art. 135 Abs. 1 Buchst. i dieser Richtlinie erhobenen Mehrwertsteuer verleiht.
64 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass das vorlegende Gericht mit seiner vierten Frage wissen möchte, ob die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens – wenn das Gericht feststellen sollte, dass Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung entgegensteht – einen Anspruch auf Erstattung des Betrags der auf der Grundlage dieser Regelung entrichteten Mehrwertsteuer hätten.
65 Diese Frage ist daher so zu verstehen, dass sie die Auslegung der Regeln des Unionsrechts über die Rückforderung rechtsgrundlos entrichteter Beträge betrifft (vgl. entsprechend Urteil vom 6. September 2011, Lady & Kid u. a., C‑398/09, EU:C:2011:540).
66 Unter diesen Umständen und unter Berücksichtigung der in den Rn. 46 und 47 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ist die vierte Vorlagefrage dahin umzuformulieren, dass das vorlegende Gericht mit ihr im Wesentlichen wissen möchte, ob die Regeln des Unionsrechts über die Rückforderung rechtsgrundlos entrichteter Beträge dahin auszulegen sind, dass sie dem Steuerpflichtigen einen Anspruch auf Erstattung des Betrags der in einem Mitgliedstaat unter Verstoß gegen Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 erhobenen Mehrwertsteuer verleihen.
67 Nach ständiger Rechtsprechung stellt der Anspruch auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unionsrechtswidrig erhoben hat, eine Folge und eine Ergänzung der Rechte dar, die dem Einzelnen aus den diesen Abgaben entgegenstehenden Bestimmungen des Unionsrechts in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof erwachsen. Die Mitgliedstaaten sind also grundsätzlich verpflichtet, unionsrechtswidrig erhobene Abgaben zu erstatten (Urteil vom 28. September 2023, Administrația Județeană a Finanțelor Publice Brașov [Übergang des Erstattungsanspruchs], C‑508/22, EU:C:2023:715, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
68 Der Anspruch auf Rückzahlung der rechtsgrundlos entrichteten Beträge soll also die Folgen der Unvereinbarkeit der Abgabe mit dem Unionsrecht dadurch beheben, dass die mit ihr zu Unrecht auferlegte wirtschaftliche Belastung des Wirtschaftsteilnehmers, der sie letztlich tatsächlich getragen hat, neutralisiert wird (Urteil vom 16. Mai 2013, Alakor Gabonatermelő és Forgalmazó, C‑191/12, EU:C:2013:315, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
69 Ausnahmsweise kann jedoch eine solche Rückzahlung abgelehnt werden, wenn sie zu einer ungerechtfertigten Bereicherung der Berechtigten führt. Der Schutz der in diesem Bereich durch die Unionsrechtsordnung garantierten Rechte verlangt daher nicht die Erstattung von unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Steuern, Gebühren oder Abgaben, wenn die zur ihrer Zahlung herangezogene Person sie nachweislich tatsächlich auf andere abgewälzt hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Mai 2013, Alakor Gabonatermelő és Forgalmazó, C‑191/12, EU:C:2013:315, Rn. 25, und vom 21. März 2024, Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Bydgoszczy [Berichtigkeitsmöglichkeit bei unrichtigem Steuersatz], C‑606/22, EU:C:2024:255, Rn. 34 und 35).
70 Diese Ausnahme ist jedoch eng auszulegen, wobei namentlich zu berücksichtigen ist, dass die Abwälzung einer Abgabe auf den Verbraucher nicht unbedingt die wirtschaftlichen Auswirkungen der Besteuerung beim Abgabepflichtigen aufhebt (vgl. diesem Sinne Urteile vom 2. Oktober 2003, Weber's Wine World u. a., C‑147/01, EU:C:2003:533, Rn. 95).
71 Zudem muss die Erstattung der ohne Rechtsgrund entrichteten Abgabe selbst dann, wenn sie nachweislich auf Dritte abgewälzt wurde, nicht zwangsläufig zu einer ungerechtfertigten Bereicherung des Abgabepflichtigen führen, da ihm ein Schaden aus einem Absatzrückgang entstehen kann, wenn er diese Abgabe in die Preise einfließen lässt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. September 2011, Lady & Kid u. a., C‑398/09, EU:C:2011:540, Rn. 21, und vom 21. März 2024, Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Bydgoszczy [Berichtigkeitsmöglichkeit bei unrichtigem Steuersatz], C‑606/22, EU:C:2024:255, Rn. 28).
72 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass sich Vorliegen und Umfang der ungerechtfertigten Bereicherung, zu der die Erstattung einer unionsrechtswidrig erhobenen Abgabe bei einem Abgabepflichtigen führt, erst nach einer wirtschaftlichen Untersuchung feststellen lassen, bei der alle maßgeblichen Umstände berücksichtigt werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. April 2008, Marks & Spencer, C‑309/06, EU:C:2008:211, Rn. 43, und vom 21. März 2024, Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w Bydgoszczy [Berichtigkeitsmöglichkeit bei unrichtigem Steuersatz], C‑606/22, EU:C:2024:255, Rn. 38).
73 Folglich ist auf die vierte Frage zu antworten, dass die Regeln des Unionsrechts über die Rückforderung rechtsgrundlos entrichteter Beträge dahin auszulegen sind, dass sie dem Steuerpflichtigen einen Anspruch auf Erstattung des Betrags der in einem Mitgliedstaat unter Verstoß gegen Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 erhobenen Mehrwertsteuer verleihen, sofern diese Erstattung nicht zu einer ungerechtfertigten Bereicherung des Steuerpflichtigen führt.
Zur sechsten Frage
74 Mit seiner sechsten Frage, die vor der fünften Frage zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, für den Schutz der Rechte des von der rechtswidrigen Durchführung einer staatlichen Beihilfe betroffenen Einzelnen zu sorgen, der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit und die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, insbesondere der Grundsatz der steuerlichen Neutralität, dahin auszulegen sind, dass ein Steuerpflichtiger einen der entrichteten Mehrwertsteuer entsprechenden Betrag in Form von Schadensersatz zurückfordern kann, wenn die Befreiung anderer Wirtschaftsteilnehmer von dieser Steuer eine rechtswidrige staatliche Beihilfe darstellt.
75 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass sich die sechste Frage auf die Regelung staatlicher Beihilfen bezieht, genauer gesagt auf die Verpflichtungen, die nationalen Gerichten zukommen, wenn sie feststellen, dass die Befreiung bestimmter Wirtschaftsteilnehmer von der Mehrwertsteuer eine staatliche Beihilfe darstellt, die ohne die nach Art. 108 Abs. 3 AEUV erforderliche vorherige Anmeldung gezahlt wurde.
76 Unter diesen Umständen und unter Berücksichtigung der in den Rn. 46 und 47 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ist die sechste Vorlagefrage dahin umzuformulieren, dass das vorlegende Gericht mit ihr im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 108 Abs. 3 AEUV dahin auszulegen ist, dass, wenn die Befreiung bestimmter Wirtschaftsteilnehmer von der Mehrwertsteuer eine rechtswidrige Beihilfe darstellt, ein Steuerpflichtiger, der nicht in den Genuss einer solchen Befreiung gekommen ist, einen der entrichteten Mehrwertsteuer entsprechenden Betrag in Form von Schadensersatz erhalten kann.
77 Hierzu ist festzustellen, dass die nationalen Gerichte zwar nach ihrem nationalen Recht sicherstellen müssen, dass sämtliche Konsequenzen aus einer Verletzung von Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV insbesondere sowohl hinsichtlich der Gültigkeit der Durchführungsakte als auch hinsichtlich der Wiedereinziehung der unter Verletzung dieser Bestimmung gewährten finanziellen Unterstützungen gezogen werden und dass Gegenstand ihrer Aufgabe somit die Anordnung von Maßnahmen ist, die geeignet sind, der Rechtswidrigkeit der Durchführung der Beihilfen abzuhelfen, damit der Empfänger in der bis zur Entscheidung der Kommission noch verbleibenden Zeit nicht weiterhin frei über sie verfügen kann (Urteil vom 5. März 2019, Eesti Pagar, C‑349/17, EU:C:2019:172, Rn. 89 und die dort angeführte Rechtsprechung).
78 Außerdem kann ein nationales Gericht gehalten sein, über einen Antrag auf Ersatz des durch die Rechtswidrigkeit der Beihilfemaßnahme verursachten Schadens zu entscheiden (Urteil vom 5. Oktober 2006, Transalpine Ölleitung in Österreich, C‑368/04, EU:C:2006:644, Rn. 56).
79 Somit können die nationalen Gerichte in Erfüllung ihrer Aufgabe dazu gehalten sein, Klagen auf Ersatz von Schäden stattzugeben, die den Wettbewerbern des Begünstigten durch eine rechtswidrige staatliche Beihilfe entstanden sind (Urteil vom 23. Januar 2019, Fallimento Traghetti del Mediterraneo, C‑387/17, EU:C:2019:51, Rn. 56).
80 Indesesen kann aber die etwaige Rechtswidrigkeit der Befreiung von einer Abgabe im Hinblick auf das Beihilfenrecht der Union nicht die Rechtmäßigkeit dieser Abgabe selbst berühren, so dass ihr Schuldner sich nicht darauf berufen kann, dass die Befreiung anderer Personen eine staatliche Beihilfe darstelle, um sich ihrer Zahlung zu entziehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Oktober 2006, Transalpine Ölleitung in Österreich, C‑368/04, EU:C:2006:644, Rn. 51, und vom 3. März 2020, Vodafone Magyarország, C‑75/18, EU:C:2020:139, Rn. 24).
81 Sollte ein nationales Gericht zu der Auffassung gelangen, dass die Befreiung bestimmter Wirtschaftsteilnehmer von der Mehrwertsteuer eine staatliche Beihilfe darstellt, hätte, wenn einem Steuerpflichtigen, der dieser Steuer entrichtet hat, ein der entrichteten Mehrwertsteuer entsprechender Betrag in Form von Schadensersatz gewährt würde, dies aber gerade zur Folge, dass sich dieser Steuerpflichtige der Zahlung der Steuer entziehen könnte.
82 Folglich ist auf die sechste Frage zu antworten, dass Art. 108 Abs. 3 AEUV dahin auszulegen ist, dass, wenn die Befreiung bestimmter Wirtschaftsteilnehmer von der Mehrwertsteuer eine rechtswidrige staatliche Beihilfe darstellt, ein Steuerpflichtiger, der nicht in den Genuss einer solchen Befreiung gekommen ist, nicht einen der entrichteten Mehrwertsteuer entsprechenden Betrag in Form von Schadensersatz erhalten kann.
Zur fünften Frage
83 Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 107 AEUV dahin auszulegen ist, dass die Mehrwertsteuerbefreiung des Kaufs von Lotterielosen und der Ausschluss sonstiger online angebotener Glücksspiele mit Geldeinsatz von dieser Befreiung eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare staatliche Beihilfe darstellt.
84 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass diese Frage im Rahmen der Klage eines Steuerpflichtigen gestellt wird, die auf Erstattung des Äquivalents der von ihm entrichteten Mehrwertsteuer in Form von Schadensersatz gerichtet ist. Außerdem ist aus der Vorlageentscheidung nicht ersichtlich, dass diese Frage einen weiteren Gegenstand hätte.
85 Aus der Antwort auf die sechste Frage ergibt sich jedoch, dass, wenn die Befreiung bestimmter Wirtschaftsteilnehmer von der Mehrwertsteuer eine staatliche Beihilfe darstellt, ein Steuerpflichtiger, der nicht in den Genuss einer solchen Befreiung gekommen ist, nicht einen der entrichteten Mehrwertsteuer entsprechenden Betrag in Form von Schadensersatz zurückfordern kann.
86 In Anbetracht der Antwort auf die sechste Frage erübrigt sich somit eine Beantwortung der fünften Frage.
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