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BFH: Umsatzsteuerbefreiung für Haarwurzeltransplantationen bei Haarausfall (Alopezie)

  1. Ein therapeutischer Zweck im umsatzsteuerrechtlichen Sinne kann auch dann vorliegen, wenn eine Haarwurzeltransplantation nicht auf die Ursachen des Haarausfalls einwirkt, sondern lediglich ihre Folgen beseitigt.
  2. Bei hereditärer und vernarbender Alopezie besteht eine tatsächliche Vermu­tung dafür, dass ein behandlungsbedürftiger Zustand vorliegt.
  3. Die Diagnose einer androgenetischen Alopezie rechtfertigt noch nicht die tatsächliche Vermutung, dass ein behandlungsbedürftiger Zustand vorliegt.
  4. Zum Nachweis der Steuerbefreiung einer Haarwurzeltransplantation ist bei androgenetischer Alopezie eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung vorzule­gen; pauschale, nicht näher substantiierte Erklärungen des transplantierenden Arztes genügen insoweit nicht.

UStG § 4 Nr. 14 Buchst. a
MwStSystRL Art. 132 Abs. 1 Buchst. c

BFH-Urteil vom 25.9.2024, XI R 17/21 (veröffentlicht am 5.12.2024)

Vorinstanz: FG Düsseldorf vom 16.6.2021, 5 K 2710/17 U = SIS 21 14 75

I. Die Beteiligten streiten über die Frage, inwieweit autologe Haarwurzeltrans­plantationen bei Patienten mit Alopezie (Haarausfall) umsatzsteuerbefreit sind.

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist niedergelassener Facharzt für Chi­rurgie. Er betreibt eine Praxis, die sich auf die Behandlung von Haarausfall spezialisiert hat. Seine ärztliche Tätigkeit besteht darin, die Patienten zunächst dahingehend zu untersuchen, welche Erscheinungsform des Haarausfalls vor­liegt. Bei androgenetischer, hereditärer und vernarbender Alopezie beiderlei Geschlechts nimmt er anschließend Transplantationen patienteneigener Haar­wurzeln vor.

Für die Jahre 2010 bis 2012 (Streitjahre) erklärte der Kläger im Anschluss an eine tatsächliche Verständigung für die Besteuerungszeiträume bis einschließ­lich 2009 in den abgegebenen Umsatzsteuererklärungen, die Steuerfestset­zungen unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleichstanden (§ 168 der Abga­benordnung), 90 % seiner Umsätze als steuerfrei; es handele sich um Heilbe­handlungen im Bereich der Humanmedizin im Sinne des § 4 Nr. 14 Buchst. a des Umsatzsteuergesetzes (UStG), die er in Ausübung seiner Tätigkeit als Arzt durchgeführt habe.

Nach einer Außenprüfung nahm der Prüfer an, dass die vom Kläger in den Streitjahren erbrachten Haarverpflanzungen nur insoweit steuerfrei seien, als sie auf Patienten mit sogenannter narbiger Alopezie entfielen. Nur insoweit sei eine Krankheit im Sinne des § 27 Satz 1 Nr. 1 des Fünften Buches Sozialge­setzbuch ersichtlich. Die übrigen Umsätze seien hingegen steuerpflichtig. Eine ärztliche Heilbehandlung sei insoweit nicht gegeben.

Dem folgte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) in den Um­satzsteuerbescheiden für 2010 vom 24.11.2014, für 2011 vom 05.12.2014 und für 2012 vom 26.11.2014. Es erhöhte die Umsatzsteuer entsprechend.

Hiergegen legte der Kläger jeweils Einspruch ein. Er machte unter Vorlage von Gutachten, Behandlungsrichtlinien und medizinischer Fachliteratur geltend, die Transplantationen seien medizinisch indiziert, dienten der Behandlung oder Vorbeugung von Krankheiten oder anderen Gesundheitsstörungen und verfolg­ten einen therapeutischen Zweck. Die androgenetische Alopezie werde durch pathologische Abweichungen im Sexualhormonstoffwechsel oder durch im­munpathologische Vorgänge verursacht; sie gehe mit bestimmten Begleiter­krankungen einher. Eine Indikation zur Haarwurzeltransplantation im Sinne ei­ner Heilbehandlung hänge von der Ausprägung und der Lokalisation der an­drogenetischen Alopezie ab. Bei Männern sei eine Indikation zu bejahen für die Ausprägungen M3, C2‑3, V3 sowie U1‑3 nach der sogenannten BASP-Klassifi­kation, bei Frauen mit den Ausprägungen I‑III nach der sogenannten Ludwig-Klassifikation beziehungsweise F1‑3 nach der BASP-Klassifikation. Soweit eine medizinische Indikation vorliege, seien die Umsätze steuerfrei.

Im Laufe des Einspruchsverfahrens erließ das FA am 06.03.2015 aus hier nicht streitigen Gründen Umsatzsteuer-Änderungsbescheide für die Jahre 2011 und 2012, die zu keiner Änderung der Steuerfestsetzung führten.

Mit Einspruchsentscheidung vom 22.09.2017 wies das FA die Einsprüche als unbegründet zurück. Es führte im Wesentlichen aus: Eine Steuerbefreiung komme ‑‑über die vernarbende Alopezie hinaus‑‑ nur insoweit in Betracht, als die medizinische Indikation im Einzelfall nachgewiesen werde. Dies sei schon mangels Vorlage anonymisierter Patientenakten nicht geschehen. Es sei davon auszugehen, dass die Transplantationen kosmetischen Zwecken gedient hät­ten. Die bloße Aufstellung der Behandlungsfälle, in denen der Kläger selbst die medizinische Notwendigkeit der Haarwurzeltransplantationen bescheinige, rei­che als Nachweis nicht aus. Den Entscheidungen des behandelnden Arztes komme keine Bindungswirkung für das Besteuerungsverfahren zu. Soweit die Maßnahme auf den Schutz und die Prävention von Erkrankungen der Kopfhaut abziele, könne dies auch durch andere Maßnahmen erreicht werden, die weni­ger kostenintensiv seien.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit seinem in Entscheidungen der Fi­nanzgerichte 2021, 1680 veröffentlichten Urteil nur zu einem geringen Teil statt, indem es die Diagnosetätigkeit des Klägers als steuerfrei ansah; im Üb­rigen wies es die Klage ab. Das FG ließ dabei offen, ob es sich bei der andro­genetischen Alopezie um eine Krankheit oder um einen körperlichen Mangel handele. Denn es fehle der Haarwurzeltransplantation jedenfalls an einer the­rapeutischen Zielsetzung, weil sie weder der Heilung noch der Behandlung der Ursachen der androgenetischen Alopezie diene. Der Auffassung, dass es sich um eine rekonstruktive Maßnahme handele, die dazu führe, dass eine erneute und dauerhafte Abdeckung der Kopfhaut erfolge, folge das FG nicht. Die Be­handlungen hätten in erster Linie zu einem kosmetisch-ästhetischen Ergebnis geführt. Allenfalls nachrangig, nicht als Hauptzweck, könne ihnen eine gewisse vorbeugende Funktion zum Schutz der Kopfhaut zugemessen werden.

Jenseits des pauschalen Abstellens auf den Grad der Ausprägung des Haaraus­falls habe der Kläger weder dargelegt noch nachgewiesen, dass die Behand­lungen im jeweiligen Einzelfall medizinisch erforderlich gewesen seien. Die Ausführungen zur androgenetischen Alopezie gälten auch für die hereditäre Alopezie. Auch bei ihr werde durch die Haarwurzeltransplantation weder auf die Ursachen des Haarausfalls eingewirkt noch liege der Hauptzweck der Maß­nahme im Schutz der Gesundheit.

Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen und formellen Rechts.

Er bringt im Wesentlichen vor, das FG habe zu Unrecht angenommen, eine Be­handlung im Sinne von § 4 Nr. 14 Buchst. a Satz 1 UStG und Art. 132 Nr. 1 Buchst. b und c der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL) setze voraus, dass auf die Ursachen einer Krankheit eingewirkt werde. Ausreichend sei es, wenn die Krankheitsfolgen durch Linderung von Schmerzen und Beschwerden abge­schwächt oder körperliche Mängel umgangen oder kompensiert würden. Dies sei im Streitfall zu bejahen. Die natürliche Funktion der Kopfhaut werde bei der androgenetischen Alopezie wiederhergestellt, bei der hereditären erstmals herbeigeführt.

Das FG sei außerdem von der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europä­ischen Union (EuGH) abgewichen. So habe es angenommen, dass das Haupt­ziel und der Hauptzweck der Maßnahme im Schutz der Gesundheit liegen müs­se. Dem Urteil des EuGH PFC Clinic vom 21.03.2013 ‑ C‑91/12, EU:C:2013:198 sei aber zu entnehmen, dass eine Steuerbefreiung nur dann ausscheide, wenn der Eingriff zu rein kosmetischen Zwecken erfolge. Soweit dies, wie im Streitfall, zu verneinen sei, müsse von einer Heilbehandlung aus­gegangen werden. Wollte man ‑‑wie das FG‑‑ zusätzlich auf ein bestimmtes Ausmaß der therapeutischen Zielsetzung oder auf einen vorrangigen Zweck der Maßnahme abstellen, so wäre eine Vorlage der Rechtsfrage an den EuGH geboten.

Der Kläger beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache zur an­derweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG Düsseldorf zurückzuver­weisen.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

II. Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhand­lung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).

Das FG hat zwar zu Recht entschieden, dass die Diagnosetätigkeit des Klägers steuerfrei ist. Es hat jedoch zu Unrecht den Transplantationen pauschal den therapeutischen Zweck abgesprochen und nicht hinreichend geprüft, inwieweit es sich bei den verschiedenen vom Kläger behandelten Formen des Haaraus­falls um einen behandlungsbedürftigen Zustand handelt.

1. Nach § 4 Nr. 14 Buchst. a Satz 1 UStG umsatzsteuerfrei sind Heilbehand­lungen im Bereich der Humanmedizin, die im Rahmen der Ausübung der Tätig­keit als Arzt, Zahnarzt, Heilpraktiker, Physiotherapeut, Hebamme oder einer ähnlichen heilberuflichen Tätigkeit durchgeführt werden. Unionsrechtlich be­ruht dies auf Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL. Danach sind Heilbehand­lungen im Bereich der Humanmedizin, die im Rahmen der Ausübung der von dem betreffenden Mitgliedstaat definierten ärztlichen und arztähnlichen Berufe durchgeführt werden, steuerfrei. § 4 Nr. 14 Buchst. a Satz 1 UStG ist im Lichte des Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL unionsrechtskonform auszulegen (vgl. z.B. Senatsbeschluss vom 11.10.2017 ‑ XI R 23/15, BFHE 259, 567, BStBl II 2018, 109, Rz 24 f., m.w.N.), wozu auch weiterhin die Rechtspre­chung des EuGH zu Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17.05.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvor­schriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern herangezogen werden kann (vgl. EuGH-Urteile Future Health Technologies vom 10.06.2010 ‑ C‑86/09, EU:C:2010:334, Rz 27; Peters vom 18.09.2019 ‑ C‑700/17, EU:C:2019:753, Rz 18).

a) Der autonome unionsrechtliche Begriff "Heilbehandlung(en) im Bereich der Humanmedizin" (vgl. EuGH-Urteile Unterpertinger vom 20.11.2003 ‑ C‑212/01, EU:C:2003:625, Rz 35; D'Ambrumenil und Dispute Resolution Services vom 20.11.2003 ‑ C‑307/01, EU:C:2003:627, Rz 53) erfasst Leistun­gen, die der Diagnose, der Behandlung und, soweit möglich, der Heilung von Krankheiten oder Gesundheitsstörungen dienen (vgl. z.B. EuGH-Urteile Peters vom 18.09.2019 ‑ C‑700/17, EU:C:2019:753, Rz 20; X‑GmbH vom 05.03.2020 ‑ C‑48/19, EU:C:2020:169, Rz 28). Eine Heilbehandlung in diesem Sinne erfordert einen therapeutischen Zweck (vgl. EuGH-Urteil Frenetikexito vom 04.03.2021 ‑ C‑581/19, EU:C:2021:167, Rz 25, m.w.N.). Daraus folgt je­doch nicht zwangsläufig, dass die therapeutische Zielsetzung einer Leistung in einem besonders engen Sinne zu verstehen ist; so fallen medizinische Leistun­gen, die zum Schutz einschließlich der Aufrechterhaltung oder Wiederherstel­lung der menschlichen Gesundheit erbracht werden, unter die in Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL vorgesehene Steuerbefreiung (vgl. z.B. EuGH-Urteile Future Health Technologies vom 10.06.2010 ‑ C‑86/09, EU:C:2010:334, Rz 41 f.; PFC Clinic vom 21.03.2013 ‑ C‑91/12, EU:C:2013:198, Rz 27; X‑GmbH vom 05.03.2020 ‑ C‑48/19, EU:C:2020:169, Rz 29). Der Begriff des therapeutischen Zwecks ist unter Berücksichtigung des Zwecks der Steuerbefreiung auszulegen, der darin besteht, die Kosten ärztli­cher Heilbehandlungen zu senken (EuGH-Urteile Kommission/Frankreich vom 11.01.2001 ‑ C‑76/99, EU:C:2001:12, Rz 23; Unterpertinger vom 20.11.2003 ‑ C‑212/01, EU:C:2003:625, Rz 40; D'Ambrumenil und Dispute Resolution Services vom 20.11.2003 ‑ C‑307/01, EU:C:2003:627, Rz 58; L.u.P. vom 08.06.2006 ‑ C‑106/05, EU:C:2006:380, Rz 29; CopyGene vom 10.06.2010 ‑ C‑262/08, EU:C:2010:328, Rz 29; Verigen Transplantation Service International vom 18.11.2010 ‑ C‑156/09, EU:C:2010:695, Rz 24, 27; PFC Clinic vom 21.03.2013 ‑ C‑91/12, EU:C:2013:198, Rz 26; BFH-Urteile vom 18.08.2011 ‑ V R 27/10, BFHE 235, 58, Rz 21; vom 19.03.2015 ‑ V R 60/14, BFHE 249, 562, BStBl II 2015, 946, Rz 13; BFH-Beschlüsse vom 11.10.2017 ‑ XI R 23/15, BFHE 259, 567, BStBl II 2018, 109, Rz 27; vom 27.02.2018 ‑ XI B 97/17, BFH/NV 2018, 738, Rz 11).

b) Dagegen sind Leistungen, die zu einem anderen Zweck als dem der Diagno­se, der Behandlung und, soweit möglich, der Heilung von Krankheiten oder Gesundheitsstörungen durchgeführt werden und keinem solchen therapeuti­schen Ziel dienen, keine Heilbehandlungen (vgl. EuGH-Urteil D. vom 14.09.2000 ‑ C‑384/98, EU:C:2000:444, Rz 18 f.; BFH-Urteile vom 15.07.2004 ‑ V R 27/03, BFHE 206, 471, BStBl II 2004, 862, unter II.c; vom 30.06.2005 ‑ V R 1/02, BFHE 210, 188, BStBl II 2005, 675, unter II.a). Das gilt insbesondere für Leistungen, die lediglich den allgemeinen Gesundheitszu­stand verbessern oder das allgemeine Wohlbefinden steigern sollen (vgl. BFH-Urteile vom 26.09.2007 ‑ V R 54/05, BFHE 219, 241, BStBl II 2008, 262, un­ter II.2.; vom 30.01.2008 ‑ XI R 53/06, BFHE 221, 399, BStBl II 2008, 647, unter II.2.a bb).

2. Hiervon ausgehend hat das FG zu Unrecht entschieden, eine Haartransplan­tation habe keinen therapeutischen Zweck.

a) Das FG hat angenommen, dass es an einem therapeutischen Zweck der Transplantationen fehle, weil sie weder der Heilung noch der Behandlung der Ursachen der Alopezie dienten. Die androgenetische Ausprägung werde durch eine Störung des Androgenstoffwechsels verursacht, die zu einer lokalen An­häufung von Dihydrotestosteron führe, gegen die wiederum die terminalen Haarfollikel empfindlich seien. Daneben spielten andere, androgenunabhängige und weitgehend unbekannte Faktoren eine Rolle. Die Transplantation greife in diesen immunpathologischen Vorgang nicht ein; sie halte auch den weiteren Fortschritt des Haarausfalls nicht auf. Für die hereditäre Alopezie gelte Ent­sprechendes, auch hier werde mit einer Transplantation auf die Ursachen des Haarausfalls nicht eingewirkt.

b) Damit hat das FG ein zu enges Verständnis des therapeutischen Zwecks zu­grunde gelegt. Aufgrund der Ausführungen unter II.1.a kann ein therapeuti­scher Zweck im umsatzsteuerrechtlichen Sinne auch dann vorliegen, wenn nicht auf die Ursachen einer Krankheit eingewirkt wird. So kann zum Beispiel nach der Rechtsprechung des BFH eine Fruchtbarkeitsbehandlung einem the­rapeutischen Zweck dienen, obwohl sie die Unfruchtbarkeit nicht heilt (BFH-Urteile vom 07.07.2022 ‑ V R 10/20, BFHE 276, 445, Rz 11 f.; vom 29.07.2015 ‑ XI R 23/13, BFHE 251, 86, BStBl II 2017, 733, Rz 24 ff.). Glei­ches gilt für andere Maßnahmen, die eine Krankheit zwar nicht heilen, aber die damit verbundenen Mängel ausgleichen (vgl. BFH-Urteil vom 16.12.2010 ‑ VI R 43/10, BFHE 232, 179, BStBl II 2011, 414, Rz 13). Daher hat zum Bei­spiel die Ersetzung oder Wiederherstellung eines von Geburt an fehlenden oder im Laufe des Lebens verlorengegangenen Teils des menschlichen Körpers nach Auffassung des Senats einen therapeutischen Zweck, wenn und soweit der sich aus dem Fehlen ergebende Zustand behandlungsbedürftig (das heißt eine Krankheit oder sonstige Gesundheitsstörung) ist. Hingegen können feh­lende oder verlorengegangene Teile des Körpers nicht umsatzsteuerfrei ersetzt werden, wenn ihr Fehlen oder Verlust keinen Krankheitswert aufweist und auch nicht zu (gegebenenfalls auch psychischen) Folgeerkrankungen führt, weil dann die Maßnahme kosmetischen Zwecken dient.

3. Da das FG somit von falschen Rechtsgrundsätzen ausgegangen ist, ist sein Urteil aufzuheben. Die Sache ist indes nicht spruchreif; der Senat vermag den Streitfall auf Grundlage der bisherigen tatsächlichen Feststellungen im ange­fochtenen Urteil nicht abschließend zu entscheiden. Das FG hat nicht festge­stellt, in welchem Umfang der Kläger in den Streitjahren Patienten behandelt hat, bei denen der Alopezie Krankheitswert zukommt.

a) Ästhetische Behandlungen wie Haartransplantationen kommen als steuer­freie Heilbehandlungen in Betracht, wenn die Leistungen dazu dienen, Perso­nen zu behandeln oder zu heilen, bei denen aufgrund einer Krankheit, Verlet­zung oder eines angeborenen körperlichen Mangels ein Eingriff ästhetischer Natur erforderlich ist (EuGH-Urteil PFC Clinic vom 21.03.2013 ‑ C‑91/12, EU:C:2013:198, Rz 29; vgl. auch BFH-Urteil vom 04.12.2014 ‑ V R 33/12, BFHE 248, 424, Rz 14). Die gesundheitlichen Probleme, die zu einer steuer­freien Heilbehandlung führen, können auch psychologischer Art sein (EuGH-Urteil PFC Clinic vom 21.03.2013 ‑ C‑91/12, EU:C:2013:198, Rz 33). Erfolgt der Eingriff jedoch zu rein kosmetischen Zwecken, reicht dies nicht aus (EuGH-Urteil PFC Clinic vom 21.03.2013 ‑ C‑91/12, EU:C:2013:198, Rz 29).

b) Bei ästhetischen Behandlungen, die ‑‑wie die Haartransplantationen des Klägers‑‑ sowohl Heilbehandlungszwecken als auch bloß kosmetischen Zwe­cken oder der Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustands dienen können und insofern einem Grenzbereich zuzuordnen sind, liegt ‑‑anders als der Kläger wohl meint‑‑ nicht in jedem Fall eine Heilbehandlung vor, sondern es kommt auf eine Prüfung anhand der Umstände des Einzelfalls an (vgl. BFH-Urteile vom 01.10.2014 ‑ XI R 13/14, BFHE 248, 367, Rz 29 f.; vom 04.12.2014 ‑ V R 33/12, BFHE 248, 424, Rz 15; BFH-Beschlüsse vom 06.06.2008 ‑ XI B 11/08, BFH/NV 2008, 1547; vom 29.10.2013 ‑ V B 58/13, BFH/NV 2014, 192; vom 11.12.2014 ‑ XI B 49/14, BFH/NV 2015, 363, Rz 8; vom 27.02.2024 ‑ XI B 97/17, BFH/NV 2018, 738, Rz 13). Da es um die Beur­teilung einer medizinischen Frage geht, muss sie auf medizinischen Feststel­lungen beruhen, die von dem entsprechenden Fachpersonal getroffen worden sind (BFH-Beschluss vom 19.06.2013 ‑ V S 20/13, BFH/NV 2013, 1643, Rz 17; BFH-Urteil vom 01.10.2014 ‑ XI R 13/14, BFHE 248, 367, Rz 19). Die rein subjektive Vorstellung, die der Patient von der Leistung hat, ist als solche für die Beurteilung nicht maßgeblich (EuGH-Urteil PFC Clinic vom 21.03.2013 ‑ C‑91/12, EU:C:2013:198, Rz 34 f.; BFH-Beschluss vom 19.06.2013 ‑ V S 20/13, BFH/NV 2013, 1643, Rz 17; BFH-Urteile vom 01.10.2014 ‑ XI R 13/14, BFHE 248, 367, Rz 19; vom 04.12.2014 ‑ V R 16/12, BFHE 248, 416, Rz 12; vom 04.12.2014 ‑ V R 33/12, BFHE 248, 424, Rz 14).

c) Eine Krankheit liegt nach der ertragsteuerrechtlichen Rechtsprechung des BFH, deren Anwendung auf den Streitfall unionsrechtliche Erwägungen nicht entgegenstehen, bei einem anormalen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand vor, der den Betroffenen in der Ausübung normaler psychischer oder körperlicher Funktionen derart beeinträchtigt, dass er nach herrschender Auf­fassung einer medizinischen Behandlung bedarf (vgl. BFH-Urteile vom 18.06.1997 ‑ III R 84/96, BFHE 183, 476, BStBl II 1997, 805, unter II.2.a; vom 10.05.2007 ‑ III R 47/05, BFHE 218, 141, BStBl II 2007, 871, unter II.2.; vom 05.07.2012 ‑ III R 80/09, BFHE 238, 76, BStBl II 2012, 816, Rz 15; vom 14.04.2015 ‑ VI R 89/13, BFHE 249, 483, BStBl II 2015, 703, Rz 10), wobei es im Bereich der Umsatzsteuer nicht auf die Zwangsläufigkeit von Aufwen­dungen ankommt, sondern auf die unter II.3.a und b genannte Abgrenzung.

d) Alopezie kann daher einen behandlungsbedürftigen Zustand darstellen, wenn der Verlust oder Mangel an Haaren bereits für sich betrachtet Krank­heitswert hat (e), objektiv entstellend wirkt (f) oder zu Folgeerkrankungen führt (g). Derjenige, der sich so auf die Steuerfreiheit der Umsätze beruft, muss dies in jedem Einzelfall nachweisen (h).

e) Der Verlust oder Mangel an Haaren kann, muss aber nicht für sich betrach­tet Krankheitswert haben.

aa) Der Senat teilt nicht die Auffassung des Klägers, der Mangel an Haupthaar führe ab einem bestimmten Grad der Alopezie generell zu einer Beeinträchti­gung von Körperfunktionen, so dass in diesen Fällen stets eine behandlungs­bedürftige Krankheit oder Gesundheitsstörung vorliege. Soweit der Kläger da­zu anführt, dass die fehlenden Haare nicht mehr als natürlicher Schutz vor Sonne, Kälte und Hitze zur Verfügung stünden, reicht dies nicht aus; denn auch andere Teile des Körpers sind nicht behaart und müssen deshalb vor Sonne, Kälte und Hitze geschützt werden, ohne dass deshalb ein behandlungs­bedürftiger Zustand vorläge. Der Umstand, dass es sich bei Alopezie nach der "International Classification of Diseases (ICD)" der Weltgesundheitsorganisa­tion um eine Krankheit handeln mag, ändert daran nach der Rechtsprechung des BFH nichts (ausführlich Beschlüsse vom 18.02.2008 ‑ V B 35/06, BFH/NV 2008, 1001, unter II.4.a bb; vom 01.07.2010 ‑ V B 62/09, BFH/NV 2010, 2136, Rz 13; vom 24.10.2011 ‑ XI B 54/11, BFH/NV 2012, 279, Rz 13). Um eine behandlungsbedürftige Krankheit oder Gesundheitsstörung annehmen zu können, muss das Fehlen der Haare vielmehr als anormaler Zustand anzu­sehen sein, der den Betroffenen derart beeinträchtigt, dass er nach herrschen­der Auffassung einer medizinischen Behandlung bedarf.

bb) Ausgehend davon stellt die hereditäre Alopezie nach Auffassung des Se­nats typischerweise einen behandlungsbedürftigen Zustand dar. Menschen, die darunter leiden, mangelt es nach den tatsächlichen Feststellungen des FG be­reits ab ihrer Geburt an Haaren, was sich im Laufe des Lebens teilweise ver­stärkt. Dies weicht ersichtlich vom Normalzustand ab. Der Senat geht daher davon aus, dass in solchen Fällen eine tatsächliche Vermutung dafür besteht, dass eine Behandlungsbedürftigkeit zu bejahen ist. Mögliche Ausnahmen hier­von wären gegebenenfalls in Bezug auf den jeweiligen Patienten von der Fi­nanzverwaltung konkret nachzuweisen, wobei der Steuerpflichtige zur Sach­verhaltsaufklärung heranzuziehen (§ 76 Abs. 1 Satz 2 FGO) und dabei zu be­achten ist, dass es um Umstände geht, die in seiner Sphäre liegen (vgl. dazu grundlegend BFH-Urteil vom 15.02.1989 ‑ X R 16/86, BFHE 156, 38, BStBl II 1989, 462).

cc) Ebenfalls als behandlungsbedürftiger Zustand ist aus Sicht des Senats die ‑‑zwischen den Beteiligten nicht (mehr) im Streit stehende‑‑ vernarbende Alo­pezie einzuordnen. Der Grund des Haarausfalls besteht hier in einer Entzün­dung, welche die Haarfollikel vernarben und so die Haare ausfallen lässt. Eine Krankheit ist deshalb ohne Weiteres anzunehmen. Entsprechendes gilt für Si­tuationen, in denen Unfälle, Verletzungen oder entzündliche Prozesse im Kör­per zum Verlust der Haare geführt haben.

dd) Im Bereich der androgenetischen Alopezie hingegen, die kennzeichnet, dass die Haare im Laufe der Jahre bei Männern im Wesentlichen an Stirn und oberem Hinterkopf und bei Frauen ‑‑wenn auch deutlich seltener‑‑ am Scheitel ausfallen, folgt der Senat der Sichtweise anderer oberster Gerichtshöfe des Bundes (vgl. etwa Urteil des Bundessozialgerichts ‑‑BSG‑‑ vom 22.04.2015 ‑ B 3 KR 3/14 R, Neue Zeitschrift für Sozialrecht ‑‑NZS‑‑ 2015, 662; Urteil des Bundesgerichtshofs vom 26.09.2002 ‑ I ZR 101/00, Neue Juristische Wochen­schrift-Rechtsprechungs-Report Zivilrecht 2003, 478). Anlagebedingter Haar­ausfall kann typischerweise nicht als krankhaft angesehen werden, weil er ‑‑abhängig vom Alter‑‑ die Mehrheit der Menschen betrifft und daher kein anormaler, sondern ein normaler Zustand ist. Ein dem Alter entsprechendes ‑‑wenn mitunter vom Betroffenen auch nicht als ästhetisch wahrgenomme­nes‑‑ Aussehen ist nicht regelwidrig. Die Diagnose einer androgenetischen Alo­pezie rechtfertigt daher für sich genommen noch nicht die tatsächliche Vermu­tung, dass eine therapiebedürftige Krankheit vorliegt. Vielmehr ist ‑‑umge­kehrt‑‑ tatsächlich zu vermuten, dass eine Haarverpflanzung in diesen Fällen regelmäßig aus kosmetischen Zwecken und nicht zur Behandlung einer Krank­heit erfolgt.

f) Dem Haarverlust kann aber (auch) im Bereich der androgenetischen Alope­zie Krankheitswert beigemessen werden, soweit er entstellend wirkt (vgl. dazu auch BSG-Urteil vom 22.04.2015 ‑ B 3 KR 3/14 R, NZS 2015, 662). Dies kann sowohl bei Männern als auch bei Frauen, die von androgenetischer Alopezie seltener betroffen sind als Männer, wenn auch nicht gänzlich verschont blei­ben, ausnahmsweise zu bejahen sein. Maßgeblich hierfür sind ‑‑als vom FG festzustellende Tatfrage‑‑ die Umstände des jeweiligen Einzelfalls.

g) Davon unabhängig kann ein behandlungsbedürftiger Zustand anzunehmen sein, wenn der Haarausfall bei dem Betroffenen im Einzelfall zu Folgeerkran­kungen ‑‑insbesondere zu solchen psychischer Natur‑‑ führt.

h) Das FG wird die zur Einordnung der Umsätze in diese Kategorien erforderli­chen Feststellungen im zweiten Rechtsgang nachzuholen haben.

aa) Der Kläger, der sich auf die Steuerbefreiung beruft, trägt insoweit die Feststellungslast (vgl. BFH-Urteil vom 01.10.2014 ‑ XI R 13/14, BFHE 248, 367, Rz 29 f.; BFH-Beschlüsse vom 11.01.2019 ‑ XI R 29/17, BFH/NV 2019, 440, Rz 31; vom 11.12.2014 ‑ XI B 49/14, BFH/NV 2015, 363, Rz 8; vom 27.02.2018 ‑ XI B 97/17, BFH/NV 2018, 738, Rz 13). Er hat, soweit keine ent­sprechende tatsächliche Vermutung (II.3.e aa bis cc) besteht, das Vorliegen eines Ausnahmefalls für jeden einzelnen Patienten durch von medizinischem Fachpersonal zu treffende Feststellungen zu dokumentieren und nachzuweisen (vgl. schon EuGH-Urteil PFC Clinic vom 21.03.2013 ‑ C‑91/12, EU:C:2013:198, Rz 35; BFH-Urteile vom 01.10.2014 ‑ XI R 13/14, BFHE 248, 367, Rz 19; vom 04.12.2014 ‑ V R 33/12, BFHE 248, 424, Rz 14).

bb) Der Senat weist in diesem Zusammenhang das FG und die Beteiligten da­rauf hin, dass der Kläger zwar als Arzt zu dem medizinischen Fachpersonal ge­hört, das medizinische Feststellungen treffen kann, aber nicht näher substan­tiierte, pauschale Erklärungen des behandelnden Arztes, wie sie bisher vorlie­gen, jedenfalls im Grenzbereich von rekonstruktiven Heilbehandlungen und ästhetischen Behandlungen zu kosmetischen Zwecken nicht genügen; sonst hätte es der leistende Unternehmer selbst in der Hand, allein mit der Behaup­tung, es liege eine Heilbehandlung vor, die sachlichen Voraussetzungen der Steuerbefreiung nachzuweisen, ohne dass das FA und das FG dies nachprüfen könnten. Zu verlangen ist daher eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung, die Angaben insbesondere dazu enthalten soll, auf welcher tatsächlichen Grundla­ge die fachliche Beurteilung erfolgt ist, welche Methode der Tatsachenerhe­bung angewandt wurde, wie die fachlich-medizinische Beurteilung des Krank­heitsbildes (Diagnose) lautet, welchen Schweregrad die Erkrankung aufweist und welche (entstellenden oder psychischen) Folgen sich aus ihr ergeben. Zu beachten ist vom FG und den Beteiligten dabei auch, dass die Feststellung ei­ner entstellenden Wirkung oder einer psychischen Erkrankung typischerweise nicht durch einen Chirurgen (wie den Kläger), sondern durch einen dafür zu­ständigen Facharzt erfolgt.

4. Da die Revision des Klägers bereits mit der Sachrüge Erfolg hat, muss der erkennende Senat über die ebenfalls erhobenen Verfahrensrügen nicht mehr befinden (vgl. BFH-Urteile vom 23.01.2019 ‑ XI R 15/16, BFHE 263, 543, Rz 89; vom 13.12.2023 ‑ VI R 3/22, BFH/NV 2024, 867, Rz 65).

5. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG folgt aus § 143 Abs. 2 FGO.

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