ZEW: Deutsche wünschen sich ein einfacheres Steuersystem
ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung GmbH Mannheim, Pressemitteilung vom 2.1.2020
Die Bürger/innen in Deutschland halten die Zeit für reif für eine Reform der Einkommensteuer. Mehr als 90 Prozent der Deutschen wünschen sich ein einfacheres Einkommensteuersystem. In den Augen der Befragten profitieren von den Abzugsmöglichkeiten und Freibeträgen im deutschen Steuersystem vor allem gut verdienende Haushalte. Die Akzeptanz für Steuervergünstigungen steigt, wenn dadurch ein Ausgleich für besondere Umstände geschaffen wird. Zudem fehlt in der Bevölkerung ein Bewusstsein für die Nachteile, die eine Vereinfachung der Einkommensteuer mit sich bringen würde. Zu diesen Ergebnissen kommt die Auswertung einer repräsentativen Umfrage im Rahmen einer aktuellen Studie des ZEW Mannheim.
Für die Untersuchung stützen sich die Forscher auf eine Befragung von 2.464 Personen aus ganz Deutschland, die das German Internet Panel des Sonderforschungsbereichs „Politische Ökonomie von Reformen“ in Mannheim durchgeführt hat. 92 Prozent der Umfrageteilnehmer/innen halten das deutsche Steuersystem mit seinen vielen Vergünstigungen für „stark“ oder „eher“ vereinfachungsbedürftig. Die Studie zeigt, dass vor allem ältere Menschen ein einfacheres Steuersystem befürworten. Das gleiche gilt für Bürger/innen, die die Steuererklärung in der derzeitigen Form für schwierig zu bewältigen halten. Nur 20 Prozent der Befragten, die angeben, ihre Steuererklärung selbst auszufüllen, empfinden das Verfassen der Steuererklärung als „leicht“ oder eher „leicht“.
Um herauszufinden, ob die Befragten ein komplexes Steuersystem mit Vergünstigungen auch im konkreten Fall ablehnen, wurden sie von den Wissenschaftlern nacheinander mit drei Szenarien konfrontiert. Dabei ging es jeweils um zwei Personen mit dem gleichen Bruttoeinkommen, die sich in einem Merkmal unterschieden: Bei der Pflege eines Familienmitglieds, bei den Spenden für wohltätige Zwecke sowie bei der Länge der Pendelstrecke zur Arbeit. Die Pendlerpauschale ist auch die steuerliche Vergünstigung, die die Befragten selbst am meisten nutzen.
Mehrheit lehnt Entschädigungen für selbstgewählte Lebensumstände ab
60 Prozent, also fast zwei Drittel aller Befragten, befürworten steuerliche Vergünstigungen für die Pflege von Angehörigen. Dagegen spricht sich mit 59 Prozent eine Mehrheit der Befragten gegen eine steuerliche Begünstigung von Pendlern/-innen aus. 66 Prozent der Umfrageteilnehmer/innen sind der Ansicht, dass Spenden für wohltätige Zwecke nicht steuerlich absetzbar sein sollten.
„Unsere Erhebung zeigt, dass es für die meisten Befragten einen Unterschied macht, ob Lebensumstände selbstgewählt sind, wie etwa bei einer weiten Pendelstrecke oder Ausgaben für Spenden“, sagt Sebastian Blesse, Wissenschaftler im ZEW-Forschungsbereich „Unternehmensbesteuerung und Öffentliche Finanzwirtschaft“ sowie Mitautor der Studie. „In diesen Fällen befürworten Menschen steuerliche Vorteile hauptsächlich dann, wenn sie selbst davon profitieren. So unterstützen etwa 45 Prozent der Pendler die Pendlerpauschale, aber nur 25 Prozent der übrigen Teilnehmer/innen. Anders sieht es bei Faktoren aus, die nicht selbstgewählt sind. Dazu zählt zum Beispiel die Pflege eines Elternteils. 58 Prozent der Befragten, die nicht selbst pflegen, wünschen sich trotzdem eine steuerliche Entlastung der Betroffenen.“
Ein weiteres Ergebnis der Umfrage ist, dass die Menschen in Deutschland Freibeträge und steuerliche Absetzbarkeit als sozial ungerecht wahrnehmen: Eine Mehrheit der Befragten ist der Ansicht, dass vor allem die oberen Einkommensklassen von diesen beiden Punkten profitieren.
Im weiteren Verlauf der Umfrage wurden die Teilnehmer/innen per Zufall in drei verschiedene Gruppen eingeteilt: Die sogenannte Kontrollgruppe erhielt keine weiteren Informationen. Einer zweiten Gruppe wurden Argumente vorlegt, die für eine Vereinfachung der Einkommensteuer sprechen. Die dritte Gruppe schließlich wurde mit Argumenten gegen die Vereinfachung konfrontiert. Mit diesem Experiment wollten die Forscher herausfinden, ob Menschen ihre Einstellungen zu einer Steuervereinfachung ändern, wenn sie mehr über die Gründe erfahren, die dafür und dagegen sprechen.
Vorteile von Abzügen und Freibeträgen oftmals nicht bekannt
Dabei stellt sich heraus, dass die Befragten ihre ursprünglich positive Meinung zu Steuervereinfachungen oftmals kritisch revidieren. „Die Unterstützung für ein einfaches Steuersystem geht zurück, wenn die Befragten Informationen über die Vorteile von Vergünstigungen erhalten. Das spricht dafür, dass in der Öffentlichkeit das Bewusstsein dafür fehlt, warum es so viele Abzüge und Freibeträge gibt“, sagt Florian Buhlmann, Wissenschaftler im ZEW-Forschungsbereich „Soziale Sicherung und Verteilung“ und Mitautor der Studie. „Im Gegensatz dazu wirken sich Argumente für eine Vereinfachung so gut wie gar nicht auf die Einstellungen aus. Ein möglicher Grund dafür ist, dass die meisten Befragten ohnehin schon ein einfacheres Steuersystem bevorzugen.“
Auf die Frage, wie eine Reform für das deutsche Steuersystem aussehen sollte, geben die Teilnehmer/innen keine einheitliche Antwort. Zwar möchten nur sechs Prozent das derzeitige System beibehalten. Aber es besteht Uneinigkeit bei der Frage, ob bei einer Reform auch die Vergünstigungen abgeschafft werden sollten. Zudem bevorzugen einige Teilnehmer/innen eine konstante Steuerrate, während sich andere ein progressiveres Steuersystem wünschen. Eine ebenfalls von manchen favorisierte Option besteht darin, die Steuersätze und Vergünstigungen nicht zu verändern, aber mithilfe vorausgefüllter Formulare die Steuererklärung zu vereinfachen.
Die Wissenschaftler stellen vor diesem Hintergrund fest, dass trotz des allgemeinen Wunsches nach Vereinfachung ein gesellschaftlicher Konsens fehlt, welche Reform erstrebenswert ist. Insofern verwundert es wenig, dass die Regelungen zur Einkommensteuer zuletzt zwischen 1996 und 2005 reformiert wurden. Die Studienautoren befürworten eine Debatte über die Vor- und Nachteile eines komplexen Steuersystems. Davon erhoffen sie sich einen ausgewogenen Meinungsbildungsprozess, der über die reflexartige Forderung nach Steuervereinfachung hinausgeht.
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