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BFH: Typischerweise arbeitstägliches Aufsuchen eines vom Arbeitgeber festgelegten Sammelpunkts

1. Die entsprechende Anwendung der Entfernungspauschale setzt gemäß § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4a Satz 3 EStG voraus, dass der Arbeitnehmer den Ort oder das weiträumige Gebiet zur Aufnahme der Arbeit aufgrund einer Weisung des Arbeitgebers zum einen typischerweise arbeitstäglich und zum anderen auch dauerhaft aufzusuchen hat.

2. Ein "typischerweise arbeitstägliches" Aufsuchen erfordert kein ausnahms­loses Aufsuchen des vom Arbeitgeber festgelegten Orts oder Gebiets an sämt­lichen Arbeitstagen des Arbeitnehmers. Ein nach Weisung "typischerweise fahrtägliches" Aufsuchen genügt aber nicht.

3. Für die Frage, ob der Arbeitnehmer denselben Ort oder dasselbe weiträu­mige Tätigkeitsgebiet aufgrund der Weisung des Arbeitgebers "dauerhaft" auf­zusuchen hat, ist die Legaldefinition in § 9 Abs. 4 Satz 3 EStG entsprechend heranzuziehen.

EStG § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4, § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4a Satz 3, § 9 Abs. 4 Satz 3

BFH-Urteil vom 19.4.2021, VI R 6/19 (veröffentlicht am 19.8.2021)

Vorinstanz: Thüringer FG vom 5.12.2018, 1 K 594/16 (= SIS 19 14 89)

I.

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute, die für das Streitjahr (2014) zur Einkommensteuer zusammen veranlagt wurden.

Der Kläger ist bei der ...(KG) als Baumaschinenführer angestellt. Zu den jeweiligen Arbeitsorten (Baustellen) gelangte er im Streit­jahr entsprechend einer betriebsinternen Anweisung der KG jeweils mit einem Sammelfahrzeug seines Arbeitgebers. Dies betraf sowohl Fahrten mit täglicher Rückkehr als auch Fahrten zu sonstigen Arbeitsorten, an denen der Kläger (mehrtägig) übernachtete. Die Einsätze auf den "Fernbaustellen" dauerten in der Regel die gesamte Woche.

In der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr erklärten die Kläger bei den Einkünften des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit u.a.:

Fahrtkosten

15 km x 145 Tage x 0,30 € x 2

1.305 €

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) berücksichtigte die Aufwendungen nur mit der Entfernungspauschale in Höhe von 653 €.

Der Einspruch der Kläger blieb ohne Erfolg. Während des Klageverfahrens er­ließ das FA einen aus hier nicht streitigen Gründen geänderten Einkommen­steuerbescheid für das Streitjahr.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage, mit der die Kläger weitere Werbungs­kosten bei den Einkünften des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von 653 € begehrten, mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte 2019, 261 veröffentlichten Gründen ab.

Mit der Revision rügen die Kläger die Verletzung materiellen Rechts.

Sie beantragen sinngemäß,
das FG-Urteil aufzuheben und den Einkommensteuerbescheid 2014 vom 10.08.2017 dahingehend zu ändern, dass weitere Werbungskosten bei den Einkünften des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit in Höhe von 653 € berücksichtigt werden.

Das FA beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Das Bundesministerium der Finanzen (BMF) ist dem Rechtsstreit beigetreten. Einen Antrag hat es nicht gestellt.

II.

Die Revision der Kläger ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefoch­tenen Urteils und zur Zurückverweisung der Rechtssache an das FG zur ander­weitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanz­gerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).

1. Beruflich veranlasste Fahrtkosten sind Erwerbsaufwendungen. Handelt es sich bei den Aufwendungen des Arbeitnehmers um solche für die Wege zwi­schen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte i.S. des § 9 Abs. 4 des Einkom­mensteuergesetzes (EStG), ist zu deren Abgeltung für jeden Arbeitstag, an dem der Arbeitnehmer die erste Tätigkeitsstätte aufsucht, grundsätzlich eine Entfernungspauschale für jeden vollen Kilometer der Entfernung zwischen Wohnung und erster Tätigkeitsstätte von 0,30 € anzusetzen (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 Sätze 1 und 2 EStG; Senatsurteil vom 04.04.2019 ‑ VI R 27/17, BFHE 264, 271, BStBl II 2019, 536).

2. Hat ein Arbeitnehmer keine erste Tätigkeitsstätte und hat er nach den dienst- oder arbeitsrechtlichen Festlegungen sowie den diese ausfüllenden Ab­sprachen und Weisungen zur Aufnahme seiner beruflichen Tätigkeit dauerhaft denselben Ort typischerweise arbeitstäglich aufzusuchen (sog. Sammelpunkt), gilt § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG für die Fahrten von der Wohnung zu diesem Ort entsprechend (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4a Satz 3 EStG).

Insoweit handelt es sich dem Grunde nach um eine Auswärtstätigkeit, so dass Verpflegungsmehraufwendungen und Übernachtungskosten unbeschadet der Anwendung der Entfernungspauschale zu gewähren sind. Solche Aufwendun­gen stehen vorliegend auch nicht im Streit.

a) Die Frage, ob ein Arbeitnehmer ohne erste Tätigkeitsstätte zur Aufnahme seiner beruflichen Tätigkeit dauerhaft denselben Ort oder dasselbe weiträumi­ge Tätigkeitsgebiet typischerweise arbeitstäglich aufzusuchen hat, wird ‑‑wie im Fall der Zuordnung zu einer ersten Tätigkeitsstätte (§ 9 Abs. 4 Satz 2 EStG)‑‑ durch die dienst- oder arbeitsrechtlichen Festlegungen sowie die diese ausfüllenden Absprachen und Weisungen bestimmt (§ 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4a Satz 3 EStG).

aa) Zu den arbeits- oder dienstrechtlichen Weisungen und Verfügungen (im weiteren Verlauf: arbeitsrechtliche) zählen alle schriftlichen, aber auch münd­lichen Absprachen oder Weisungen (BTDrucks 17/10774, S. 15). Solche Ab­sprachen und Weisungen können insbesondere im Arbeitsvertrag oder aber auch durch Ausübung des Direktionsrechts (beispielsweise im Beamtenver­hältnis durch dienstliche Anordnung) kraft der Organisationsgewalt des Arbeit­gebers oder Dienstherrn (im weiteren Verlauf: Arbeitgeber) erfolgen (s. Senatsurteil in BFHE 264, 271, BStBl II 2019, 536, Rz 16).

Entscheidend ist, ob der Arbeitnehmer aus der Sicht ex ante nach den arbeitsrechtlichen Festlegungen dauerhaft denselben Ort oder dasselbe weit­räumige Tätigkeitsgebiet typischerweise arbeitstäglich aufzusuchen hat.

bb) Die arbeitsrechtliche Anordnung des Arbeitgebers als solche muss für ihre steuerliche Wirksamkeit nicht dokumentiert werden (s. Senatsurteil in BFHE 264, 271, BStBl II 2019, 536, Rz 17). Die Feststellung einer entsprechenden Anordnung ist durch alle nach der Finanzgerichtsordnung zugelassenen Be­weismittel möglich und durch das FG im Rahmen einer umfassenden Würdi­gung aller Umstände des Einzelfalls zu treffen.

b) Die entsprechende Anwendung der Entfernungspauschale nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG setzt gemäß § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4a Satz 3 EStG voraus, dass der Arbeitnehmer den Ort oder das weiträumige Gebiet zur Aufnahme der Arbeit aufgrund der Weisung des Arbeitgebers zum einen typischerweise arbeitstäglich und zum anderen auch dauerhaft aufzusuchen hat.

aa) Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sah insoweit noch vor, dass der Arbeitnehmer "zur Aufnahme seiner beruflichen Tätigkeit dauerhaft denselben Ort oder dasselbe weiträumige Tätigkeitsgebiet aufzusuchen" hat (BTDrucks 17/10774, S. 4). Ziel dabei war es, für die Fahrten zu einem vom Arbeitgeber dauerhaft festgelegten Ort, an dem sich der Arbeitnehmer aufgrund seiner arbeitsvertraglichen Festlegungen regelmäßig einzufinden oder seine dienst­lichen Tätigkeiten regelmäßig aufzunehmen hat (z.B. Fahrten zu einem Bus­depot oder Fährhafen), die Aufwendungen für die Fahrten von der Wohnung zu diesem Ort mit der Entfernungspauschale nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG als Werbungskosten zu berücksichtigen (BTDrucks 17/10774, S. 13). Ergänzt wurde dies auf Empfehlung des Finanzausschusses durch den Zusatz "typischerweise arbeitstäglich" (BTDrucks 17/11180, S. 8). Hierdurch sollte klargestellt werden, dass die vorgesehene Regelung lediglich für die Berufs­gruppen gilt, die im Normalfall arbeitstäglich z.B. an einem vom Arbeitgeber festgelegten Ort ein Fahrzeug in Empfang nehmen, dort im Rahmen der Sam­melbeförderung abgeholt werden oder z.B. ein ihnen zugewiesenes Waldge­biet, Hafengebiet oder einen Zustellbezirk aufsuchen (BTDrucks 17/11217, S. 7).

bb) Nach dem Wortlaut "typischerweise" ist nicht maßgebend, dass der Arbeit­nehmer den vom Arbeitgeber bestimmten Ort oder das Gebiet im Veranla­gungszeitraum ausnahmslos aufzusuchen hat. Vielmehr erfordert das Gesetz nur, dass er ihn nach der Anweisung "typischerweise arbeitstäglich" aufzusu­chen hat. Typischerweise meint "in der Regel üblich", "im Normalfall". Damit bringt der Wortsinn zum Ausdruck, dass das Gesetz gerade kein ausnahms­loses Aufsuchen an sämtlichen Arbeitstagen voraussetzt.

Wie das BMF zu Recht ausführt, kommt es auch nicht darauf an, dass hierbei eine bestimmte prozentuale oder tageweise Grenze überschritten wird. Maßge­bend ist vielmehr, ob der Arbeitnehmer entsprechend der Weisung des Arbeit­gebers den Ort in der Regel aufzusuchen hat. Ausnahmen sind mithin durch­aus möglich, wie z.B. infolge einer Fortbildungsveranstaltung oder eines unvorhergesehenen Einsatzes.

Nicht ausreichend ist es entgegen der Ansicht des BMF jedoch, wenn der Arbeitnehmer bei wechselnden Einsatzorten weiß, dass er an jedem Arbeits­tag, an dem er Fahrten von seiner Wohnung aus durchführen wird, immer den vom Arbeitgeber festgelegten Ort vor Aufnahme seiner beruflichen Tätigkeit aufzusuchen hat. Einem solchen Verständnis der Regelung steht der eindeu­tige Gesetzeswortlaut des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4a Satz 3 EStG entgegen. Das Gesetz fordert ein "typischerweise arbeitstägliches" Aufsuchen, so dass ein nur "typischerweise fahrtägliches" Aufsuchen gerade nicht ausreicht.

cc) Ein dauerhaftes Aufsuchen ist entsprechend der Legaldefinition in § 9 Abs. 4 Satz 3 EStG zu bejahen, wenn die Anordnung des Arbeitgebers zum Aufsuchen desselben Orts oder desselben weiträumigen Tätigkeitsgebiets unbefristet, für die Dauer des Dienstverhältnisses oder über einen Zeitraum von 48 Monaten hinaus erfolgt.

3. Das FG ist von anderen Grundsätzen ausgegangen. Der Senat kann auf­grund der von der Vorinstanz getroffenen Feststellungen nicht beurteilen, ob der Kläger nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4a Satz 3 EStG für seine Fahrten zum Betriebssitz des Arbeitgebers im Streitjahr tatsächlich nur die Entfernungspau­schale beanspruchen kann.

a) Nach den bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) hatte der Kläger keine erste Tätigkeitsstätte i.S. des § 9 Abs. 4 EStG. Das steht im Revi­sionsverfahren zu Recht auch nicht mehr im Streit. Der Senat sieht deshalb insoweit von weiteren Ausführungen ab.

b) Das FG hat weiter festgestellt, dass der Kläger zu seinen jeweiligen Arbeits­orten (Bau‑/Einsatzstellen) entsprechend einer betriebsinternen Anweisung je­weils mit einem Sammelfahrzeug seines Arbeitgebers gelangte. Hiergegen ha­ben die Kläger keine Verfahrensrügen erhoben, so dass der Senat auch an die­se Feststellung nach § 118 Abs. 2 FGO gebunden ist. Dass das Aufsuchen des Betriebssitzes zum Zwecke des Weitertransports an die Einsatzorte im Streit­fall nicht unbefristet ‑‑und damit nicht dauerhaft‑‑ erfolgen sollte, ist nicht vorgetragen und auch ansonsten nicht ersichtlich.

c) Das FG hat allerdings rechtsfehlerhaft ein typischerweise arbeitstägliches Aufsuchen des Betriebssitzes des Arbeitgebers als Sammelpunkt i.S. des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4a Satz 3 EStG allein aufgrund der Anzahl der dorthin unter­nommenen Fahrten im Verhältnis zu den Gesamtarbeitstagen des Kläger be­jaht. Nach Maßgabe der vorstehenden Ausführungen hält dies einer revisions­rechtlichen Prüfung nicht stand.

Im zweiten Rechtsgang wird das FG daher aufzuklären haben, ob der Kläger gemäß den Weisungen des Arbeitgebers bei einer ex ante Betrachtung den Betriebssitz seines Arbeitgebers als von diesem festgelegten Ort (Sammel­punkt) auch typischerweise arbeitstäglich aufsuchen sollte. Dabei wird es u.a. entscheidend darauf ankommen, ob von vornherein feststand, dass der Kläger nicht nur auf eintägigen Baustellen eingesetzt werden würde, sondern auch auf mehrtägigen Fernbaustellen. Hierfür kann auch die Betriebsstruktur des Arbeitgebers eine Rolle spielen. In diesem Fall läge aus ex ante Sicht kein typischerweise arbeitstägliches Aufsuchen des Betriebssitzes des Arbeitgebers vor. Denn dann hätte von vornherein festgestanden, dass der Kläger den Be­triebssitz nur an den Fahrtagen aufsuchen sollte. Ein nur typischerweise fahr­tägliches Aufsuchen ist nach den Ausführungen unter II.2.b bb aber nicht ausreichend.

Sollte das FG demgegenüber zu der Erkenntnis gelangen, dass der Kläger aus der ex ante Sicht grundsätzlich nur tageweise auf lokalen Baustellen einge­setzt werden sollte, es sich bei den tatsächlich erfolgten wiederholten mehrtä­gigen Einsätzen auf Fernbaustellen mithin um nicht absehbare Ausnahmen handelte, wäre der Tatbestand des § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4a Satz 3 EStG hin­gegen erfüllt. Denn nach den Ausführungen unter II.2.b bb setzt ein aus ex ante Sicht typischerweise arbeitstägliches Aufsuchen nur voraus, dass dies in der Regel zu erfolgen hatte, ohne dass ein ausnahmsloses Aufsuchen erforder­lich wäre.

4. Die Übertragung der Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.

 

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