BFH: Steuerfreiheit von Stipendien nach § 3 Nr. 44 EStG 2009
Stipendien für an einer Hochschule beschäftigte Wissenschaftler zur Erfüllung einer Forschungsaufgabe oder zur Bestreitung des Lebensunterhalts sind nach § 3 Nr. 44 Satz 3 Buchst. a EStG 2009 grundsätzlich steuerfrei, wenn sie die zuvor aus einem Beschäftigungsverhältnis bezogenen Einnahmen nicht übersteigen, nach den von dem Geber erlassenen Richtlinien vergeben werden und der Empfänger im Zusammenhang mit dem Stipendium nicht zu einer bestimmten wissenschaftlichen oder künstlerischen Gegenleistung oder zu einer bestimmten Arbeitnehmertätigkeit verpflichtet ist.
BFH-Urteil vom 24.2.2015, VIII R 43/12 (veröffentlicht am 24.6.2015)
EStG 2009 § 3 Nr. 44 Satz 3 Buchst. a, § 18 Abs. 1 Nr. 1
Vorinstanz: FG Hamburg vom 5.9.2012, 6 K 39/12 (EFG 2013 S. 104 = SIS 12 32 19)
I. Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Einnahmen der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) aus einem Forschungsstipendium eines Kollegs steuerfrei sind. Das Kolleg wird von einer gemeinnützigen Stiftung des bürgerlichen Rechts getragen.
Die Klägerin war als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Juristischen Fakultät einer Universität tätig und habilitierte sich dort. Auf ihre Bewerbung gewährte ihr die Stiftung ein Forschungsstipendium des Kollegs im Rahmen eines bestimmten Projekts in den Jahren 2009 und 2010.
Die auf der Grundlage dieses Stipendiums geleisteten Zahlungen beliefen sich auf 2.700 € pro Monat, im Streitjahr 2009 mithin auf insgesamt 8.100 €. Zusätzlich erhielt die Klägerin in 2009 eine Pauschale für Dienstreisen in Höhe von 400 €.
Das Kolleg stellte der Klägerin 2010 für das Streitjahr 2009 eine Bescheinigung über den Erhalt dieser Leistungen sowie des Sachbezugs durch die kostenlose Unterbringung in Höhe von 659,88 € aus. Die Klägerin erhielt von der Universität für die Dauer des Stipendiums Sonderurlaub ohne Fortzahlung der Bezüge.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) erfasste die Einnahmen der Klägerin aus dem Stipendium mit Einkommensteuerbescheid für 2009 vom 27.12.2010 als steuerpflichtige sonstige Einkünfte - nach Abzug unstreitiger Werbungskosten von 2.031 € - in Höhe von 7.028 € und setzte die Einkommensteuer auf 6.049 € fest.
Der dagegen eingelegte Einspruch der Klägerin blieb erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2013, 104 veröffentlichten Urteil vom 5.9.2012 6 K 39/12 als unbegründet ab. Insbesondere seien die Voraussetzungen des § 3 Nr. 44 Satz 3 Buchst. a des Einkommensteuergesetzes 2009 (EStG) nicht erfüllt. Denn die im Rahmen des Stipendiums gewährten - das vorher bezogene Gehalt nicht übersteigenden - Leistungen seien über das hinausgegangen, was zur Erfüllung der Forschungsaufgabe oder zum Bestreiten des Lebensunterhaltes der Klägerin erforderlich gewesen sei.
Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung des § 3 Nr. 44 Satz 3 EStG.
Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil der Vorinstanz sowie die Einspruchsentscheidung des FA vom 8.2.2012 aufzuheben und die Einkommensteuer der Klägerin für 2009 durch Änderung des Einkommensteuerbescheids vom 27.12.2010 unter Ansatz eines um 7.028 € geminderten zu versteuernden Einkommens (in Höhe von 23.955 €) festzusetzen.
Das FA beantragt im Wesentlichen unter Bezugnahme auf die Begründung des angefochtenen Urteils, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Insbesondere habe das FG zu Recht die Steuerfreiheit des Stipendiums mit der Begründung verneinen dürfen, es entspreche der Höhe nach nahezu den zuvor erhaltenen Lohnzahlungen.
II. Die Revision ist begründet. Nach § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ist das angefochtene Urteil aufzuheben; der angefochtene Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr 2009 in Gestalt der Einspruchsentscheidung ist entsprechend dem Revisionsantrag zu ändern.
Zu Unrecht hat das FG der Regelung in § 3 Nr. 44 Satz 3 Buchst. a EStG entnommen, dass ein steuerbefreites Stipendium im Sinne der Vorschrift schon dann nicht mehr gegeben ist, wenn es nahezu der Höhe der vor Aufnahme der geförderten Tätigkeit bezogenen Einnahmen aus wissenschaftlicher Tätigkeit entspricht.
1. Nach § 3 Nr. 44 EStG sind Stipendien steuerfrei, die unmittelbar aus öffentlichen Mitteln oder von zwischenstaatlichen oder überstaatlichen Einrichtungen, denen die Bundesrepublik Deutschland als Mitglied angehört, zur Förderung der Forschung oder zur Förderung der wissenschaftlichen oder künstlerischen Ausbildung oder Fortbildung gewährt werden. Das Gleiche gilt für Stipendien, die zu den in Satz 1 bezeichneten Zwecken von einer Einrichtung, die von einer Körperschaft des öffentlichen Rechts errichtet ist oder verwaltet wird, oder von einer Körperschaft, Personenvereinigung oder Vermögensmasse i.S. des § 5 Abs. 1 Nr. 9 des Körperschaftsteuergesetzes gegeben werden.
Voraussetzung für die Steuerfreiheit ist, dass
- die Stipendien einen für die Erfüllung der Forschungsaufgabe oder für die Bestreitung des Lebensunterhalts und die Deckung des Ausbildungsbedarfs erforderlichen Betrag nicht übersteigen und nach den von dem Geber erlassenen Richtlinien vergeben werden (§ 3 Nr. 44 Satz 3 Buchst. a EStG),
- der Empfänger im Zusammenhang mit dem Stipendium nicht zu einer bestimmten wissenschaftlichen oder künstlerischen Gegenleistung oder zu einer bestimmten Arbeitnehmertätigkeit verpflichtet ist (§ 3 Nr. 44 Satz 3 Buchst. b EStG).
Zu Recht gehen die Beteiligten auf der Grundlage der angefochtenen Entscheidung davon aus, dass von den rechtlichen Voraussetzungen der Steuerfreiheit von Stipendien nach § 3 Nr. 44 EStG in diesem Revisionsverfahren lediglich streitig sein kann, ob das Stipendium nicht nach Maßgabe der Regelung in Satz 3 Buchst. a der Vorschrift den "für die Bestreitung des Lebensunterhalts erforderlichen Betrag übersteigt".
Dem Gesetz selbst sind weitere Merkmale für eine Begrenzung dieses Betrages nicht zu entnehmen.
Immerhin ergibt sich aus dem Zusammenhang der Regelungen in Satz 3 Buchst. a einerseits und Satz 1 der Vorschrift andererseits, dass die nach dem Gesetz gebotene Bestimmung des Stipendiums "zur Förderung" der in Satz 1 benannten Zwecke - anders als bei Fördermaßnahmen i.S. des § 3 Nr. 11 EStG (vgl. dazu Urteil des Reichsfinanzhofs vom 19.5.1938 IV 97/38, RFHE 44, 49; Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 4.5.1972 IV 133/64, BFHE 105, 374, BStBl II 1972, 566; vom 27.4.2006 IV R 41/04, BFHE 214, 69, BStBl II 2006, 755) - auch die zur Bestreitung des Lebensunterhalts dienenden Zuwendungen umfasst (BFH-Urteil vom 20.3.2003 IV R 15/01, BFHE 202, 168, BStBl II 2004, 190; Bergkemper in Herrmann/ Heuer/Raupach - HHR -, § 3 Nr. 44 EStG Rz 2).
In diesem Zusammenhang soll § 3 Nr. 44 Satz 3 Buchst. a EStG nach dem Willen des Gesetzgebers lediglich sicherstellen, dass "Stipendien nur in der Höhe steuerfrei bleiben, die zur Erreichung des mit dem Stipendium verfolgten Zwecks erforderlich ist" (BTDrucks IV/2400, S. 62; BFH-Urteil in BFHE 202, 168, BStBl II 2004, 190).
Diese Erforderlichkeit "zur Erreichung des mit dem Stipendium verfolgten Zwecks" ist nach dem BFH-Urteil vom 15.9.2010 X R 33/08 (BFHE 231, 108, BStBl II 2011, 637) schon dann zu bejahen, wenn
- die Vergabe des Stipendiums nach den Richtlinien für die Vergabe der Stipendien i.S. des § 3 Nr. 44 Satz 1 und 2 EStG erfolgt,
- die Höhe des Stipendiums nicht den für die Erfüllung der Forschungsaufgabe sowie für die Bestreitung des Lebensunterhalts der Klägerin erforderlichen Betrag überschreitet und
- die Klägerin sich nicht zu einer bestimmten Gegenleistung verpflichtet.
Die Voraussetzung der Begrenzung eines Stipendiums auf den für den Lebensunterhalt erforderlichen Betrag hat der BFH für ein Stipendium in Höhe von 35.000 $ bejaht (vgl. BFH-Urteil in BFHE 231, 108, BStBl II 2011, 637). Ebenso hat der IV. Senat des BFH mit Urteil in BFHE 202, 168, BStBl II 2004, 190 eine hinreichende betragsmäßige Begrenzung des Stipendiums bei einer Zuwendung von jährlich 22.900 DM bejaht.
2. Nach diesen Grundsätzen tragen die tatsächlichen Feststellungen des FG nicht seine Auffassung, im Streitfall überschreite das Stipendium den Rahmen der erforderlichen Aufwendungen für den Lebensunterhalt der Klägerin.
a) Im Ausgangspunkt ist das FG allerdings zu Recht davon ausgegangen, dass mangels konkreter Regelungen in § 3 Nr. 44 EStG die erforderlichen Aufwendungen für den Lebensunterhalt eines Stipendiaten nach der allgemeinen Verkehrsauffassung zu bestimmen sind (vgl. HHR/Bergkemper, § 3 Nr. 44 EStG Rz 2; von Beckerath, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 3 Nr. 44 Rz B 44/79).
Dabei ist unter Lebensbedarf die Gesamtheit der Mittel zu verstehen, die benötigt werden, um dem Einzelnen ein menschenwürdiges Leben in einem sozialen Umfeld zu sichern. Er umfasst die für den laufenden Lebensunterhalt unentbehrlichen Aufwendungen für Wohnung, Verpflegung, Kleidung, Ausbildung, Gesundheit, angemessene Freizeitgestaltung und andere notwendige Ausgaben dieser Art (vgl. Palandt/Brudermüller, Bürgerliches Gesetzbuch, 74. Aufl., § 1610 Rz 9).
b) Ebenso hat das FG zu Recht die Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) nicht als Höchstsätze für die Anerkennung von Stipendien als steuerfreie Zuwendungen i.S. des § 3 Nr. 44 EStG angesehen (ebenso FG Berlin, Urteil vom 12.12.2000 5 K 5192/99, EFG 2001, 483, bestätigt durch BFH-Urteil in BFHE 202, 168, BStBl II 2004, 190).
c) Zu Unrecht hat das FG indessen die festgestellte Differenz zwischen dem zur Deckung des Lebensbedarfs vom Kolleg monatlich gezahlten Betrag von 2.700 € einerseits und dem im Streitjahr 2009 geltenden BAföG-Höchstsatz von 643 € für (nicht bei ihren Eltern lebende) Studenten andererseits zum Anlass genommen, einen über 2.000 € hinausgehenden Beitrag des Kollegs zu den Lebenshaltungskosten als nicht mehr erforderlich i.S. des § 3 Nr. 44 Satz 3 Buchst. a EStG anzusehen.
Für diesen Ansatz lässt sich auch mit Blick auf den vom FG in Bezug genommenen Grundfreibetrag als Ausdruck der Steuerfreiheit des Existenzminimums in Höhe von 7.834 € im Streitjahr keine hinreichende Rechtsgrundlage finden (a.A. wohl Ross in Frotscher, EStG, Freiburg 2011, § 3 Nr. 44 Rz 5; bei Zahlung in Höhe üblicher Entlohnung im Berufsumfeld des Stipendiaten keine Steuerfreiheit: Verfügung der Oberfinanzdirektion Frankfurt am Main vom 28.7.2011 S 2121 A - 13 - St 213 = SIS 12 16 25, Tz. 2.1., juris).
Auszugehen ist nämlich - mit dem FG - von der Notwendigkeit, bei der Bestimmung des "erforderlichen Lebensunterhalts" das Alter der Stipendiaten, ihre akademische Vorbildung sowie deren nach der Verkehrsauffassung erforderliche typische Lebenshaltungskosten in ihrer konkreten sozialen Situation zu berücksichtigen.
Auf dieser Grundlage kann das vor Inanspruchnahme des Stipendiums vereinnahmte und im Bewilligungszeitraum des Stipendiums zeitweilig ausfallende Entgelt ein gewichtiges Indiz dafür begründen, dass das Stipendium, welches betragsmäßig über den Betrag der vorher bezogenen Einnahmen nicht wesentlich hinausgeht, lediglich den "erforderlichen Lebensbedarf" der Stipendiaten i.S. des § 3 Nr. 44 Satz 3 Buchst. a EStG abdeckt.
Dies gilt zumindest dann, wenn die Bemessung des Unterhalts zur Förderung des gemeinnützigen Stiftungszwecks (hier "Förderung herausragender Forschung durch Einladung hervorragend qualifizierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler") ohne Begründung eines Arbeits- oder Dienstverhältnisses (§ 1 Satz 2, § 5a2 Satz 1 der Stiftungsbestimmungen) "als Beitrag zur angemessenen Lebensführung" - wie im Streitfall - ausgewiesen ist und im Wesentlichen auf den Ausgleich für den zeitweiligen Ausfall der vor Bewilligung des Stipendiums bezogenen Einnahmen ausgerichtet ist.
3. Die Sache ist spruchreif. Auf der Grundlage der für den Senat nach § 118 Abs. 2 FGO bindenden tatsächlichen Feststellungen des FG steht fest, dass das von der Klägerin im Streitjahr 2009 bezogene Stipendium als Beitrag für die angemessene Lebensführung zur Förderung der Forschung durch eine gemeinnützige Stiftung bewilligt wurde und der Höhe nach lediglich den Ausfall ihrer früheren Gehaltszahlungen im Bewilligungszeitraum des Stipendiums ausgleichen sollte.
Die Zahlungen aufgrund des Stipendiums sind danach bei der Steuerfestsetzung nach § 3 Nr. 44 EStG außer Ansatz zu lassen. Die entsprechende Berechnung der Steuer überträgt der Senat dem FA nach § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
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