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BFH zur Selbstunterhaltsfähigkeit eines volljährigen Kindes mit Behinderung bei Bezug von Erwerbsminderungsrenten und von ALG II infolge der Mitgliedschaft in einer Bedarfsgemeinschaft

  1. Sozialleistungen, die einem volljährigen Kind mit Behinderung zufließen, sind grundsätzlich als finanzielle Mittel zu erfassen, die seine Fähigkeit zum Selbstunterhalt gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes erhöhen; dies gilt auch für das frühere Arbeitslosengeld II (ALG II) und das Bürgergeld nach §§ 19 ff. des Sozialgesetzbuchs Zweites Buch (SGB II).
  2. Ausnahmsweise sind Sozialleistungen dann nicht zu erfassen, wenn sie zur Deckung des Lebensunterhalts nicht bestimmt oder nicht geeignet sind. Eine fehlende Eignung von in einer Bedarfsgemeinschaft auf das Kind entfallenden ALG II-Leistungen kann gegeben sein, soweit sie daraus resultieren, dass kin­dergeldrechtlich zu berücksichtigende finanzielle Mittel des Kindes (zum Bei­spiel Erwerbsminderungsrenten) sozialrechtlich gemäß dem SGB II auf andere Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft umverteilt werden.

EStG § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3, §§ 62, 63
SGB II §§ 19 ff.

BFH-Urteil vom 25.9.2025, III R 20/23 (veröffentlicht am 4.12.2025)

Vorinstanz: FG Rheinland-Pfalz vom 14.6.2023, 2 K 1492/20 = SIS KAAAJ-44694

I. Streitig sind der Kindergeldanspruch für ein Kind mit Behinderung in den Mo­naten Januar 2019 bis Mai 2020 (Streitzeitraum) und insbesondere die Ermitt­lung von Einnahmen und Bezügen bei Zusammentreffen einer Erwerbsminde­rungsrente mit Sozialleistungen aus einer Bedarfsgemeinschaft.

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist Vater des am xx.xx.1988 gebo­renen Sohnes (S). Der Kläger war zunächst kindergeldberechtigt, weil S sich aufgrund einer vor der Vollendung des 25. Lebensjahres eingetretenen Behinderung (Grad der Behinderung 60) nicht selbst unterhalten konnte.

S bezog eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Im Streitzeitraum flos­sen ihm folgende Rentenzahlungen zu:

  01/2019 bis 06/2019 07/2019 bis 05/2020
Rentenbetrag 691,92 € 713,95 €
- Krankenversicherung 50,51 € 52,12 €
- Zusatzbeitrag zur
Krankenversicherung
3,11 € 3,21 €
- Pflegeversicherung 21,10 € 21,78 €
Auszahlungsbetrag 617,20 € 636,84 €

Im Februar 2019 vereinnahmte S aus einer geringfügigen Beschäftigung einen Betrag von 208,87 €.

Im gesamten Streitzeitraum gehörte S neben seiner Ehefrau (ohne Einkom­men) sowie drei minderjährigen gemeinsamen Kindern zu einer Bedarfsge­meinschaft, für die das Jobcenter die folgenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialge­setzbuch Zweites Buch ‑‑Grundsicherung für Arbeitsuchende‑‑ (SGB II) in Form von Arbeitslosengeld II (ALG II) erbrachte:

Datum Zeitraum
(* Nachzahlung)
Höhe davon auf S entfallend
18.12.2018 01/2019 639,82 € 215,99 €
24.01.2019 02/2019 605,18 € 208,99 €
21.02.2019 03/2019 574,87 € 208,99 €
12.03.2019 02/2019* 179,65 € 22,06 €
12.03.2019 03/2019 559,98 € 115,80 €
22.03.2019 04/2019 1.134,85 € 324,79 €
01.04.2019 02/2019* 168,79 € 50,02 €
23.04.2019 05/2019 934,84 € 302,71 €
25.04.2019 01/2019* 314,98 € 106,33 €
23.05.2019 06/2019 934,84 € 302,71 €
21.06.2019 07/2019 871,70 € **292,29 €
23.07.2019 07/2019 13,16 € (in ** enthalten)
monatlich im Voraus 08‑12/2019 884,86 € 292,29 €
monatlich im Voraus 01‑05/2020 914,86 € 300,45 €

Bei der Ermittlung der den Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft zustehenden Leistungen wurden die Einnahmen des S gemäß den Regelungen des Sozial­rechts bedarfsbezogen anteilig auf alle Mitglieder verteilt. In den Bewilli­gungsbescheiden wurden ihm seine Erwerbsminderungsrente sowie sein Er­werbseinkommen des Monats Februar 2019 nicht ganz, sondern lediglich in folgender Höhe zugerechnet:

Zeitraum S zugerechneter Betrag
01/2019 198,11 €
02/2019 217,21 €
03/2019 bis 04/2019 167,95 €
05/2019 bis 06/2019 190,03 €
07/2019 bis 12/2019 200,45 €
01/2020 bis 05/2020 199,29 €

Mit Bescheid vom 26.02.2020 hob die vormalige Beklagte (Familienkasse X) die Kindergeldfestsetzung ab Januar 2019 auf und forderte das für Januar 2019 bis Dezember 2019 gezahlte Kindergeld in Höhe von 2.388 € vom Kläger zurück. Zur Begründung führte sie aus, S sei auf­grund der verfügbaren eigenen finanziellen Mittel (Rente, ALG II-Leistungen) in der Lage, seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Bei der Prüfung der Fähigkeit zum Selbstunterhalt berücksichtigte die Familienkasse X neben der vollen Erwerbsminderungsrente auch die S anteilig zustehenden ALG II-Leistungen aus der Bedarfsgemeinschaft.

Der Einspruch blieb ohne Erfolg. Das Finanzgericht (FG) gab der hiergegen er­hobenen Klage mit Urteil vom 14.06.2023 ‑ 2 K 1492/20 statt und hob den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 26.02.2020 und die Ein­spruchsentscheidung vom 29.04.2020 auf.

Mit der vom FG zugelassenen Revision rügte ursprünglich die Familienkasse X die Verletzung von Bundesrecht in Gestalt einer un­zutreffenden Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuerge­setzes (EStG). Nach Hinweis auf den schon im Verlauf des erstinstanzlichen Verfahrens eingetretenen gesetzlichen Beteiligtenwechsel (s. dazu unter II.) erklärte die für den Streitfall zuständig gewordene Beklagte und Revisionsklä­gerin (Familienkasse Zentraler Kindergeldservice ‑‑Familienkasse ZKGS‑‑), dass sie der bisherigen Prozessführung durch die Familienkasse X zustimme und die Prozessführung im Revisionsverfahren über­nehme.

Die Familienkasse ZKGS beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

II. Die Familienkasse ZKGS wurde mit Beschluss des Vorstands der Bundesagen­tur für Arbeit Nr. 12/2022 vom 27.01.2022 (Amtliche Nachrichten der Bundes­agentur für Arbeit ‑‑ANBA‑‑, Nr. 5/2022, S. 5 ff.) bei der Agentur für Arbeit Sachsen-Anhalt Nord als neue Familienkasse wirksam errichtet und mit diesem Beschluss sowie dem Beschluss Nr. 129/2022 vom 03.11.2022 (ANBA, Nr. 12/2022, S. 11 ff., ANBA, Nr. 4/2023, S. 10 ff.) jedenfalls wirksam mit der Zuständigkeit für die Bearbeitung von Kindergeldverfahren betraut, bei denen Daten von Kindern mit Behinderung verarbeitet werden (Senatsurteile vom 17.10.2024 ‑ III R 11/23, BStBl II 2025, 207, Rz 20; vom 21.05.2025 ‑ III R 30/24, BFH/NV 2025, 1185, Rz 18). Aufgrund dieses Organisationsakts trat mit Wirkung vom 01.02.2022 schon während des FG-Verfahrens ein ge­setzlicher Beteiligtenwechsel ein (vgl. Senatsurteil vom 17.10.2024 ‑ III R 11/23, BStBl II 2025, 207, Rz 19).

Das FG-Urteil ist aus diesem Grund gegen die Familienkasse X als falsche Beklagte ergangen. Die fehlende Prozessführungsbefugnis wurde jedoch durch die im Revisionsverfahren erklärte Übernahme der Pro­zessführung durch die Familienkasse ZKGS sowie deren Zustimmung zur bis­herigen Prozessführung durch die Familienkasse X ge­heilt (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 03.04.2008 ‑ IV R 54/04, BFHE 220, 495, BStBl II 2008, 742, unter II.1.d; vom 13.12.2022 ‑ VIII R 33/20, BFHE 278, 422, BStBl II 2023, 663, Rz 22).

III.Die Revision ist unbegründet und deshalb gemäß § 126 Abs. 2 der Finanzge­richtsordnung (FGO) zurückzuweisen. Das FG hat im Ergebnis zu Recht ent­schieden, dass S im Streitzeitraum nicht in der Lage war, sich selbst zu unter­halten, weil die ihm zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel nicht ausreich­ten, um seinen existenziellen Lebensbedarf abzudecken.

1. Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG besteht für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, ein An­spruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, und die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist, sofern nicht aufgrund der Übergangsregelung des § 52 Abs. 40 Satz 5 EStG i.d.F. des Steueränderungs­gesetzes 2007 vom 19.07.2006 (BGBl I 2006, 1652), inzwischen § 52 Abs. 32 Satz 1 EStG, weiterhin die vorher geltende Altersgrenze (Vollendung des 27. Lebensjahres) maßgeblich geblieben ist.

a) Das Tatbestandsmerkmal "außerstande [...], sich selbst zu unterhalten" wird im Gesetz nicht näher umschrieben. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats ist ein Kind mit Behinderung dann außerstande, sich selbst zu unter­halten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Die Fähigkeit zum Selbstunterhalt ist dabei anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen zu prüfen, nämlich des aus dem Grundbedarf und dem behinderungsbedingten Mehrbedarf bestehenden gesamten existenziellen Lebensbedarfs des Kindes einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits (Senatsurteile vom 15.12.2021 ‑ III R 48/20, BFHE 275, 169, BStBl II 2022, 444, Rz 14 f.; vom 10.07.2024 ‑ III R 2/23, BStBl II 2024, 908, Rz 18 f.). Die Prüfung der Selbst­unterhaltsfähigkeit hat für jeden Monat gesondert zu erfolgen (Senatsurteile vom 20.04.2023 ‑ III R 7/21, BFHE 280, 223, BStBl II 2023, 911, Rz 15; vom 17.10.2024 ‑ III R 11/23, BStBl II 2025, 207, Rz 42).

b) Zu den finanziellen Mitteln des volljährigen Kindes mit Behinderung gehören seine Einkünfte und Bezüge, das heißt grundsätzlich alle Mittel, die zur De­ckung seines Lebensunterhalts geeignet und bestimmt sind und ihm im maß­geblichen Zeitraum zufließen, nicht jedoch sein Vermögen (Senatsurteile vom 15.12.2021 ‑ III R 48/20, BFHE 275, 169, BStBl II 2022, 444, Rz 16; vom 16.02.2023 ‑ III R 23/22, BFHE 280, 48, BStBl II 2023, 714, Rz 17; vom 17.10.2024 ‑ III R 11/23, BStBl II 2025, 207, Rz 44).

aa) Der Begriff der Einkünfte ist in § 2 Abs. 2 EStG gesetzlich definiert. Er um­fasst den Gewinn aus Land- und Forstwirtschaft, Gewerbebetrieb und selbst­ständiger Arbeit sowie den Überschuss der Einnahmen über die Werbungskos­ten aus nichtselbständiger Arbeit, Kapitalvermögen, Vermietung und Verpach­tung und sonstigen Einkünften (Senatsurteile vom 15.12.2021 ‑ III R 48/20, BFHE 275, 169, BStBl II 2022, 444, Rz 17; vom 16.02.2023 ‑ III R 23/22, BFHE 280, 48, BStBl II 2023, 714, Rz 18; vom 17.10.2024 ‑ III R 11/23, BStBl II 2025, 207, Rz 45).

Abgesehen von Betriebsausgaben und Werbungskosten in Abzug zu bringen sind Sozialversicherungsbeiträge und Steuern, da sie für den Lebensunterhalt nicht zur Verfügung stehen (vgl. Senatsurteile vom 19.10.2006 ‑ III R 55/06, BFH/NV 2007, 420, unter II.1.; vom 15.12.2021 ‑ III R 48/20, BFHE 275, 169, BStBl II 2022, 444, Rz 21; vom 20.10.2022 ‑ III R 13/21, BFHE 278, 444, BStBl II 2023, 655, Rz 25). Nicht als die Einkünfte mindernd zu berücksichti­gen sind demgegenüber Unterhaltsleistungen des Kindes mit Behinderung an seinen Ehepartner oder seine eigenen Kinder (vgl. Senatsurteile vom 07.04.2011 ‑ III R 72/07, BFHE 233, 449, BStBl II 2011, 974; vom 09.02.2012 ‑ III R 73/09, BFHE 236, 407, BStBl II 2012, 463; vom 20.10.2022 ‑ III R 13/21, BFHE 278, 444, BStBl II 2023, 655, Rz 27).

bb) Bezüge sind alle Zuflüsse in Geld oder Naturalleistungen, die nicht im Rah­men der einkommensteuerrechtlichen Einkünfteermittlung erfasst werden (Se­natsurteile vom 15.12.2021 ‑ III R 48/20, BFHE 275, 169, BStBl II 2022, 444, Rz 18; vom 16.02.2023 ‑ III R 23/22, BFHE 280, 48, BStBl II 2023, 714, Rz 19; vom 17.10.2024 ‑ III R 11/23, BStBl II 2025, 207, Rz 46 f., vgl. dort auch zu vom Kind mit Behinderung empfangenen Unterhaltsleistungen). Zu den Bezügen, mit deren Hilfe ein volljähriges Kind mit Behinderung seinen existenziellen Grundbedarf abdecken kann, zählen grundsätzlich auch Leistun­gen zur Sicherung des Lebensunterhalts und für die Kosten für Unterkunft und Heizung nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (vgl. Senatsurteile vom 08.08.2013 ‑ III R 30/12, BFH/NV 2014, 498, Rz 17; vom 05.02.2015 ‑ III R 31/13, BFHE 249, 144, BStBl II 2015, 1017, Rz 15; vom 19.01.2017 ‑ III R 44/14, BFH/NV 2017, 735, Rz 29).

Von den Bezügen in Abzug zu bringen sind eine Kostenpauschale von 180 € pro Jahr oder 15 € pro Monat (Senatsurteil vom 08.08.2013 ‑ III R 30/12, BFH/NV 2014, 498, Rz 22), sofern nicht höhere mit ihrem Zufluss im Zusam­menhang stehende Aufwendungen glaubhaft gemacht werden (Wendl in Herrmann/Heuer/Raupach ‑‑HHR‑‑, § 32 EStG Rz 118 mit Verweis auf die Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz).

  1. Nach diesen Grundsätzen sind die Zuflüsse aus der geringfügigen Beschäfti­gung (a) und den Erwerbsminderungsrenten (b) als zum Selbstunterhalt des S geeignete und bestimmte finanzielle Mittel zu berücksichtigen (c). Hingegen gilt dies unter den Umständen des Streitfalls nicht für die auf S entfallenden ALG II-Leistungen gemäß den Bewilligungsbescheiden des Jobcenters für die Bedarfsgemeinschaft (d). Das FG hat deshalb im Ergebnis zutreffend in allen Monaten des Streitzeitraums die Selbstunterhaltsfähigkeit des S verneint und infolgedessen den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 26.02.2020 sowie die Einspruchsentscheidung vom 29.04.2020 zu Recht aufgehoben (e).
a) Arbeitsentgelt aus geringfügiger Beschäftigung ist als Einnahme aus nicht­selbständiger Arbeit (§ 19 EStG) zu qualifizieren und führt damit zu Einkünften gemäß § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 EStG (zur Pauschalierung der Lohnsteuer bei geringfügiger Beschäftigung vgl. § 40a EStG).

S erzielte im Februar 2019 eine Vergütung aus geringfügiger Beschäftigung in Höhe von 208,87 €. Diesen Betrag hat das FG im Rahmen der Vergleichsrech­nung im Monat des Zuflusses zutreffend als finanzielle Mittel des S für dessen Unterhaltszwecke berücksichtigt.

b) Erwerbsminderungsrenten sind hinsichtlich des Besteuerungsanteils als sonstige Einkünfte zu qualifizieren, im Übrigen zählen sie zu den Bezügen (vgl. Senatsurteil vom 27.11.2019 ‑ III R 28/17, BFHE 268, 13, BStBl II 2021, 807, Rz 22).

S erzielte im Streitzeitraum monatliche Erwerbsminderungsrenten in Höhe von 691,92 € (Januar 2019 bis Juni 2019) und ab dem Monat Juli 2019 in Höhe von 713,95 €. Vermindert um die darauf entfallenden Sozialversicherungsbei­träge (im 1. Halbjahr 2019 insgesamt 74,72 € pro Monat, danach 77,11 €), den Werbungskosten-Pauschbetrag gemäß § 9a Satz 1 Nr. 3 EStG in Höhe von monatlich 8,50 € (vgl. Senatsurteil vom 27.11.2019 ‑ III R 28/17, BFHE 268, 13, BStBl II 2021, 807, Rz 22) und die monatliche Kostenpauschale von 15 € sind die vereinnahmten Erwerbsminderungsrenten als für den Selbstunterhalt des S geeignete und bestimmte finanzielle Mittel zu berücksichtigen.

c) Entgegen der im angegriffenen Urteil (S. 8 f.) beschriebenen Variante 1 (vgl. Niedersächsisches FG, Urteil vom 22.08.2018 ‑ 7 K 67/18, Rz 32 ff.) sind die Erwerbsminderungsrenten nicht aus im Sozialrecht wurzelnden Wertungs­gesichtspunkten zu kürzen. Bei teleologischer Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG sind stattdessen gemäß der Variante 2 des FG-Urteils (S. 9) die auf S entfallenden ALG II-Leistungen nicht als zusätzliche finanzielle Mittel zu erfassen, weil sie unter den Umständen des Streitfalls nicht zur Deckung seines Lebensunterhalts geeignet sind (s. dazu d).

aa) Eine sozialrechtliche "Umverteilung" von Erwerbsminderungsrenten auf an­dere Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft (vergleiche die Bewilligungsbeschei­de des Jobcenters) führt nicht dazu, dass diese Renten auch bei der Frage der Selbstunterhaltsfähigkeit des Rentenempfängers außerhalb des Sozialrechts nur in entsprechend gekürztem Umfang zu berücksichtigen wären. Vielmehr sind tatsächlich zugeflossene Erwerbsminderungsrenten im Rahmen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG ungekürzt zu erfassen, soweit sie ‑‑wie im Streitfall‑‑ kindergeldrechtlich zur Deckung des Lebensunterhalts sowohl geeignet als auch bestimmt sind. Insbesondere fehlt es ‑‑wie unter III.1.b aa ausgeführt‑‑ bei der Prüfung der Selbstunterhaltsfähigkeit eines Kindes mit Behinderung im Kindergeldrecht an der Abzugsfähigkeit von Unterhaltsleistungen, die das Kind mit Behinderung aus den ihm zugeflossenen finanziellen Mitteln an ihm gegen­über unterhaltsberechtigte Familienmitglieder erbringt. Die Erwägungen aus dem zu § 33a Abs. 1 Satz 4 EStG ergangenen Senatsurteil vom 19.06.2002 ‑ III R 28/99 (BFHE 199, 355, BStBl II 2002, 753) sind daher nicht auf die Vor­schrift des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu erstrecken.

bb) Eine (teilweise) fehlende Bestimmung oder Eignung der Erwerbsminde­rungsrente zum Selbstunterhalt lässt sich ‑‑anders als beispielsweise bei einer Schmerzensgeldrente‑‑ nicht mit deren Zweck begründen (zur Sonderfunktion des Schmerzensgelds, immaterielle Schäden abzumildern, und zu dessen feh­lender Funktion, einen Beitrag zur materiellen Existenzsicherung zu leisten, vgl. Senatsurteile vom 13.04.2016 ‑ III R 28/15, BFHE 253, 249, BStBl II 2016, 648, Rz 16 ff.; vom 20.04.2023 ‑ III R 7/21, BFHE 280, 223, BStBl II 2023, 911, Rz 18). Im Gegensatz zu Schmerzensgeldrenten dienen Erwerbs­minderungsrenten als Entgeltersatz (Rennella in Keck/Michaelis, Die Renten­versicherung im SGB, § 43 SGB VI Rz 1); durch sie werden wirtschaftliche Ein­bußen ausgeglichen, soweit Versicherte aus gesundheitlichen Gründen nur noch eingeschränkt am Erwerbsleben teilnehmen können (vgl. Ringkamp in Hauck/Noftz, § 43 SGB VI Rz 1).

d) Die in den Bewilligungsbescheiden dem S zugeordneten ALG II-Leistungen sind in den Streitmonaten nicht als weitere finanzielle Mittel des S zu berück­sichtigen, weil sie zwar sozialrechtlich Unterhaltszwecken dienen, kindergeld­rechtlich aber nicht zum Selbstunterhalt des S geeignet sind. Soweit das FG-Urteil im Ergebnis auch hierauf gestützt ist (s. Variante 2), enthält die Ent­scheidung keinen Rechtsfehler.

Obgleich Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und für die Kosten für Unterkunft und Heizung nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch grundsätz­lich als Einkünfte und Bezüge eines Kindes mit Behinderung dessen Fähigkeit zum Selbstunterhalt erhöhen (vgl. oben III.1.b bb), gilt dies unter den Um­ständen des Streitfalls ausnahmsweise nicht. Denn auf ein Kind mit Behinde­rung entfallende ALG II-Leistungen aus einer Bedarfsgemeinschaft sind zwar sozialrechtlich zur Sicherung des Lebensunterhalts bestimmt (aa). Sie können kindergeldrechtlich aber ausnahmsweise dann keinen Beitrag zur Selbstunter­haltsfähigkeit leisten, wenn und soweit kindergeldrechtlich zu erfassende fi­nanzielle Mittel des Kindes mit Behinderung (hier die Erwerbsminderungsren­ten des S) im Rahmen der Bedarfsgemeinschaft auf andere Mitglieder umver­teilt werden und nur dies dazu führt, dass sich ein auf das Kind entfallender ALG II-Bedarfsanteil errechnet. Unter diesen Voraussetzungen sind die ALG II-Leistungen aus der Bedarfsgemeinschaft nicht geeignet, das Kind zum Selbst­unterhalt zu befähigen (bb). In einem solchen Fall hat die Addition von ALG II-Leistungen bei der Ermittlung der Einkünfte und Bezüge des Kindes auf der Ebene des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu unterbleiben, weil sich die Fähig­keit des Kindes mit Behinderung zum Selbstunterhalt durch die auf diese Wei­se zustande kommenden ALG II-Leistungen tatsächlich nicht erhöht (cc).

aa) Zu den finanziellen Mitteln eines volljährigen Kindes mit Behinderung ge­hören grundsätzlich alle Mittel, die zur Deckung seines Lebensunterhalts be­stimmt und geeignet sind (vgl. Senatsurteil vom 15.12.2021 ‑ III R 48/20, BFHE 275, 169, BStBl II 2022, 444, Rz 16). Wesentliche Voraussetzung für die kindergeldrechtliche Berücksichtigung gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG ist, dass das Kind behinderungsbedingt zum Selbstunterhalt außerstande ist. Die Vorschrift bringt typisierend zum Ausdruck, dass der Anspruch auf Kinder­geld für ein volljähriges Kind mit Behinderung nur solange bestehen bleiben soll, wie es auf elterliche Unterstützung angewiesen ist (HHR/Wendl, § 32 EStG Rz 118). Es gilt festzustellen, ob das Kind sich aus eigenen Mitteln unter­halten kann oder ob es auf Mittel des Kindergeldberechtigten angewiesen ist (Senatsurteil vom 15.12.2021 ‑ III R 48/20, BFHE 275, 169, BStBl II 2022, 444, Rz 19). Eine Berücksichtigungsfähigkeit ist nicht gegeben, wenn das Kind mit Behinderung trotz seiner Behinderung imstande ist, sich selbst zu unter­halten. Dies ist dann der Fall, wenn es über eine wirtschaftliche Leistungsfä­higkeit verfügt, die zur Bestreitung seines gesamten notwendigen Lebensbe­darfs ausreicht (Senatsurteil vom 08.08.2013 ‑ III R 30/12, BFH/NV 2014, 498, Rz 15; vgl. BFH-Urteile vom 15.10.1999 ‑ VI R 182/98, BFHE 189, 457, BStBl II 2000, 79, unter II.2.c, und vom 30.04.2014 ‑ XI R 24/13, BFHE 245, 66, BStBl II 2014, 1014, Rz 27). Ob dem volljährigen Kind mit Behinderung zufließende finanzielle Mittel für Unterhaltszwecke bestimmt sind, muss sich regelmäßig aus den Umständen objektiv nachvollziehbar ableiten lassen (Se­natsurteil vom 15.12.2021 ‑ III R 48/20, BFHE 275, 169, BStBl II 2022, 444, Rz 21).

Die Aufgabe und das Ziel der Grundsicherung für Arbeitsuchende sind in § 1 SGB II geregelt. Sie soll es Leistungsberechtigten ermöglichen, ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht (§ 1 Abs. 1 SGB II), sowie die Eigenverantwortung von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten und Personen, die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft leben, stärken und dazu beitragen, dass sie ihren Lebensunterhalt unabhängig von der Grundsicherung aus eige­nen Mitteln und Kräften bestreiten können (§ 1 Abs. 2 Satz 1 SGB II). Sie um­fasst insbesondere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (§ 1 Abs. 3 Nr. 3 i.V.m. §§ 19 ff. SGB II). Schon aus dieser Zweckbestimmung des Sozial­gesetzbuchs Zweites Buch geht hervor, dass Grundsicherungsleistungen wie das ALG II (oder das seit 01.01.2023 eingeführte Bürgergeld) sozialrechtlich zur Deckung des Lebensunterhalts bestimmt sind (vgl. Senatsurteile vom 05.02.2015 ‑ III R 31/13, BFHE 249, 144, BStBl II 2015, 1017, Rz 15; vom 19.01.2017 ‑ III R 44/14, BFH/NV 2017, 735, Rz 29; s.a. Beschluss des Bun­desverfassungsgerichts vom 27.07.2016 ‑ 1 BvR 371/11, BVerfGE 142, 353, Rz 5, wonach die Grundsicherung für Arbeitsuchende dazu dient, zur Siche­rung des Lebensunterhalts unterschiedliche Bedarfe durch staatliche Leistun­gen zu decken).

bb) Zwar handelt es sich bei den Grundsicherungsleistungen wie dem ALG II grundsätzlich auch um Mittel, die zur Deckung des Lebensunterhalts geeignet sind. Für die Eignung genügt es, dass der Zufluss entsprechend verwendet werden kann (Senatsurteil vom 15.12.2021 ‑ III R 48/20, BFHE 275, 169, BStBl II 2022, 444, Rz 20, 29). Ungeachtet der generellen Eignung und der sozialrechtlichen Bestimmung von Grundsicherungsleistungen für die Deckung des Lebensunterhalts sind die ALG II-Leistungen für S vorliegend jedoch keine zusätzlichen finanziellen Mittel, die zu den kindergeldrechtlich bereits voll er­fassten Erwerbsminderungsrenten des S hinzuzurechnen sind. Denn die ALG II-Leistungen für S sind im Streitfall nicht geeignet, S über die bereits er­fassten Erwerbsminderungsrenten hinaus zum Selbstunterhalt zu befähigen.

Durch die Hinzurechnung der ‑‑nur aus der abweichenden sozialrechtlichen Berechnung resultierenden‑‑ ALG II-Leistungen ergäbe sich in der Summe nämlich eine nicht mehr realitätsgerechte Leistungsfähigkeit, die S tatsächlich in den Streitmonaten nicht hatte. Bei konsequenter Fortführung der einkom­mensteuerrechtlichen Betrachtung der Erwerbsminderungsrente als dem S zu­geordnete finanzielle Mittel ergäbe sich für ihn kein ALG II-Bedarfsanteil. Aus den Bewilligungsbescheiden geht hervor, dass der für S ausgewiesene sozial­rechtliche Bedarfsanteil geringer war als seine Erwerbsminderungsrente. Der für S errechnete ALG II-Bedarfsanteil beruht auf der sozialrechtlichen Umver­teilung seines Einkommens auf die zur Bedarfsgemeinschaft zählenden Famili­enangehörigen. Im Zuge dieser aus den Bewilligungsbescheiden ersichtlichen Umverteilung des Einkommens des S auf seine Ehefrau und die gemeinsamen minderjährigen Kinder, die kindergeldrechtlich als solche nicht zu berücksichti­gen ist (keine einkommensmindernde Berücksichtigung von Unterhaltsleistun­gen des Kindes mit Behinderung an seinen Ehegatten und seine eigenen Kin­der), wird beim Einkommen des S mehr in Abzug gebracht, als ihm im Gegen­zug durch die so ermittelten ALG II-Leistungen zugerechnet wird.

cc) Kindergeldrechtlich erbringen unter diesen Umständen die auf S entfallen­den ALG II-Leistungen keinen (weiteren) Beitrag zu seiner Fähigkeit, sich selbst zu unterhalten, sind hierzu also nicht geeignet. Die Selbstunterhaltsfä­higkeit eines Kindes mit Behinderung erhöht sich nicht, soweit kindergeld­rechtlich voll zu erfassende finanzielle Mittel wie die Erwerbsminderungsrenten sozialrechtlich im Rahmen einer Bedarfsgemeinschaft auf andere Mitglieder umverteilt werden und sich allein dadurch auf das Kind mit Behinderung ent­fallende ALG II-Leistungen errechnen. In einem solchen Fall hat die Addition der ALG II-Leistungen bei der Ermittlung der Einkünfte und Bezüge des Kindes mit Behinderung auf der Ebene des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu unter­bleiben, weil sich seine Fähigkeit zum Selbstunterhalt durch die auf diese Wei­se zustande kommenden ALG II-Leistungen tatsächlich nicht (beziehungsweise nur scheinbar) erhöht.

e) Nach der zutreffenden Berechnung des FG standen dem S danach im Feb­ruar 2019 finanzielle Mittel von 802,57 €, in den weiteren Monaten des ersten Halbjahrs 2019 von jeweils 593,70 € und im übrigen Streitzeitraum (Juli 2019 bis Mai 2020) von monatlich 613,34 € zum Selbstunterhalt zur Verfügung. Mit diesen Einkünften und Bezügen war S im gesamten Streitzeitraum außerstan­de, sich selbst zu unterhalten, weil der sich aus dem Grundbedarf (Grundfrei­betrag gemäß § 32a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG) und dem behinderungsbeding­ten Mehrbedarf (Behindertenpauschbetrag gemäß § 33b Abs. 1 bis 3 EStG) zusammensetzende existenzielle Lebensbedarf des S mit 824 € (2019) und 844 € (2020) in allen Streitmonaten höher war als die ihn zum Selbstunterhalt befähigenden finanziellen Mittel. Da auch die übrigen Tatbestandsvorausset­zungen erfüllt waren, war S gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG im gesam­ten Streitzeitraum zu berücksichtigen. Das FG hat daher im Ergebnis zu Recht den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid sowie die Einspruchsentschei­dung der Familienkasse X aufgehoben.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.

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