BMF: Bedeutung des OECD-Musterkommentars für die Auslegung von Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung; Urteil des BFH vom 11. Juli 2018 – I R 44/16 –
Bundesministerium der Finanzen 19. April 2023, IV B 2 - S 1301/22/10002 :004 (DOK 2022/1218103)
Der BFH hat im Urteil vom 11. Juli 2018 – I R 44/16 – (BStBl 2023 II S. XXX = SIS 18 19 17) u. a. zur Bedeutung des OECD-Musterkommentars für die Auslegung von Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung (DBA) Stellung genommen. Nach dem Ergebnis der Erörterungen mit den obersten Finanzbehörden der Länder gilt bei der Anwendung von DBA-Bestimmungen, die dem OECD-Musterabkommen entsprechen, Folgendes:
Der OECD-Kommentar ist – unter Berücksichtigung der in ihm enthaltenen Bemerkungen („observations“) der OECD-Mitgliedsstaaten – als ein widerlegliches Indiz für die Staatenpraxis der OECD-Mitgliedsstaaten bei der Auslegung der dem OECD-Musterabkommen entsprechenden Vorschriften ihrer DBA anzusehen. Zu berücksichtigen ist, dass der OECD-Kommentar von Delegationen der OECD-Mitgliedsstaaten unter Beteiligung der für die Verhandlung von DBA und regelmäßig für die Aufsicht über ihre Anwendung zuständigen Personen erarbeitet wird. Er wird mit seinen regelmäßigen Aktualisierungen jeweils formell auf der Ebene des OECD-Council von den Botschaftern der OECD-Mitgliedsstaaten beschlossen. Zugrunde liegt ein – zuletzt am 23. Oktober 1997 (C (97)195/FINAL) erneuerter – Beschluss des OECD-Council, nach dessen Ziffern I.2. und I.3. den Regierungen der OECD-Mitgliedsstaaten empfohlen wird,
Dies bedeutet, dass der OECD-Rat empfiehlt, die OECD-Kommentierung in ihrer jeweils zum Anwendungszeitpunkt aktuellen Fassung zu befolgen.
Ferner bleiben die Regierungen der OECD-Mitgliedsstaaten in Ziffer II. des o. a. Beschlusses weiterhin aufgefordert,
“to continue to notify the Committee on Fiscal Affairs of their reservations on the Articles and observations on the Commentaries.”
Dies erlaubt es, in Abwesenheit anderer Indizien prima facie darauf zu schließen, dass ein OECD-Mitgliedsstaat, der keine Bemerkung gegen eine von seinem Botschafter im OECD-Council mitbeschlossene Kommentierung im OECD-Kommentar eingelegt hat, diese Kommentierung teilt.
Gemäß Artikel 31 Absatz 1 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (WÜRV), BGBl. II 1985 S. 926, ist ein Vertrag
„nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen.“
Artikel 31 Absatz 3 Buchstabe a) und Buchstabe b) WÜRV sehen vor, dass außer dem Zusammenhang in gleicher Weise zu berücksichtigen sind:
„a) jede spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags oder die Anwendung seiner Bestimmungen; b) jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht;“
Dies bedeutet grundsätzlich, dass die Auslegung eines Abkommens nicht auf den Zeitpunkt seines Abschlusses „eingefroren“ wird.
Für die in Artikel 31 Absatz 3 Buchstabe b) WÜRV in Betracht kommende Staatenpraxis ist keine besondere Form erforderlich (Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen, Spätere Übereinkünfte und spätere Praxis bei der Auslegung von Verträgen, Schlussfolgerung Nummer 6, Paragraph 2, in: Resolution der Generalversammlung vom 20. Dezember 2018, UN-Doc.: A/Res/73/202, S. 4). Neben nationalen Gesetzgebungsakten und Gerichtsentscheidungen sind insbesondere auch Voten und Resolutionen in internationalen Organisationen zu berücksichtigen (vgl. Nummer 22 des Kommentars der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen zu Schlussfolgerung Nummer 6 Paragraph 2 a. a. O., in: UN-Doc.: A/73/10, S. 50).
Daraus ergibt sich, dass der OECD-Kommentar in Übereinstimmung mit Artikel 31 Absatz 3 Buchstabe b) WÜRV in seiner jeweils zum Anwendungszeitpunkt geltenden Fassung bei der Bestimmung der Auslegung von Vorschriften des OECD-Musterabkommens bzw. diesen entsprechenden Vorschriften von zwischen OECD-Mitgliedsstaaten bestehenden DBA im Sinne der oben beschriebenen Indizwirkung zu berücksichtigen ist. Dies gilt insbesondere für nachträgliche Ergänzungen und Präzisierungen der Kommentierung.
Die Indizwirkung des OECD-Kommentars ist für die innerstaatliche Anwendung widerlegt, wenn sich ein anderes Abkommensverständnis aus einem BMF-Schreiben oder einer sonstigen Verwaltungsanweisung ergibt. Die Bindungswirkung von BMF-Schreiben oder anderen Verwaltungsanweisungen für die Finanzverwaltung wird daher durch den OECD-Kommentar nicht berührt.
Dieses Schreiben wird im Bundessteuerblatt Teil I veröffentlicht.
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