BFH: Aufrechnung des FA mit Erstattungsansprüchen aus Umsatzsteuer bei nicht erkannter Organschaft im Insolvenzverfahren
Der Rechtsgrund für eine Erstattung von Umsatzsteuer wird auch dann im insolvenzrechtlichen Sinne bereits mit der Leistung der entsprechenden Vorauszahlungen gelegt, wenn diese im Fall einer nicht erkannten Organschaft zunächst gegen die Organgesellschaft festgesetzt und von dieser auch entrichtet worden sind.
InsO § 96 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3
AO § 37 Abs. 2, § 226
BGB §§ 387 ff.
ZPO § 241 Abs. 1
BFH-Urteil vom 15.10.2019, VII R 31/17 (veröffentlicht am 20.2.2020)
Vorinstanz: Thüringer FG vom 16.3.2017, 1 K 512/15 = SIS 18 06 12
I. Mit Beschluss des Amtsgerichts X vom 01.12.2011 wurde über das Vermögen der AB-GmbH (GmbH) das Insolvenzverfahren eröffnet. Zum Insolvenzverwalter wurde Rechtsanwalt S, der vormalige Kläger und Revisionskläger (vormaliger Kläger), bestellt.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) meldete am 21.12.2011 Forderungen wegen Umsatzsteuer-Vorauszahlung für September 2011 in Höhe von … € und wegen Umsatzsteuer für 2011 in Höhe von … € zur Insolvenztabelle an. Der vormalige Kläger bestritt diese Forderungen und teilte dem FA mit, dass nach den ihm vorliegenden Unterlagen zwischen der GmbH und dem Einzelunternehmen A eine Organschaft bestehe, mit der GmbH als Organgesellschaft. Das FA erließ für die GmbH gleichwohl Feststellungsbescheide, am 02.12.2012 wegen Umsatzsteuer-Vorauszahlung für September 2011 und am 17.01.2013 wegen Umsatzsteuer für 2011.
In der Folgezeit bestätigte das für das Einzelunternehmen A zuständige FA P das Bestehen der umsatzsteuerlichen Organschaft. Es nahm am 08.05.2014 zu Lasten der GmbH als Organgesellschaft gemäß §§ 73, 191 der Abgabenordnung (AO) eine Haftungsberechnung für die vom Organträger geschuldeten Umsatzsteuern und Nebenleistungen in Höhe von … € vor und meldete diesen Betrag zur Tabelle an. Die Haftungsberechnung enthielt nur Steuerforderungen, die ohne die Organschaft von der GmbH selbst zu entrichten gewesen wären.
Am 12.05.2014 widerrief das FA die Feststellungsbescheide über die Umsatzsteuer-Vorauszahlung für September 2011 und über die Umsatzsteuer für 2011 und verrechnete durch Umbuchungsmitteilung vom 30.05.2014 die von der GmbH für 2011 bereits gezahlte Umsatzsteuer in Höhe von 122.212,81 € mit der vom FA P angemeldeten Haftungsschuld, soweit sich diese auf die von dem Organträger für Oktober und November 2011 geschuldete Umsatzsteuer bezog.
Der vormalige Kläger widersprach der Verrechnung und beantragte die Erteilung eines Abrechnungsbescheids.
Mit Abrechnungsbescheid vom 17.07.2014 bestätigte das FA die vorgenommene Verrechnung. Einspruch und Klage blieben ohne Erfolg; das Urteil des Finanzgerichts (FG) ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2018, 1009 veröffentlicht.
Der vormalige Kläger ist im Juni 2019 verstorben. Mit Beschluss des Amtsgerichts X vom 27.08.2019 ist der Kläger und Revisionskläger (Kläger) als Insolvenzverwalter bestellt worden.
Mit seiner Revision macht der Kläger geltend, das angefochtene Urteil verstoße gegen § 96 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 der Insolvenzordnung (InsO). Der Bundesfinanzhof habe in seiner neueren Rechtsprechung nicht mehr auf das "Begründetsein" der betreffenden Forderung abgestellt, sondern auf die Verwirklichung des materiell-rechtlichen Tatbestands (Hinweis auf Senatsurteile vom 25.07.2012 - VII R 29/11, BFHE 238, 307, BStBl II 2013, 36; VII R 30/11, BFH/NV 2013, 603, und VII R 56/09, BFH/NV 2013, 413). Damit komme es offensichtlich auch bei § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO nur noch auf das steuerrechtliche und nicht mehr auf das insolvenzrechtliche Entstehen des jeweiligen Anspruchs an. Steuerrechtlich seien die hier streitigen Erstattungsansprüche jedoch erst mit der Aufhebung der fehlerhaften Umsatzsteuer-Festsetzungen entstanden. Ungeachtet dessen verstoße aber das angefochtene Urteil zumindest teilweise auch gegen § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO, denn in dem Urteil werde diesbezüglich lediglich ausgeführt, dass der Erstattungsanspruch "nicht durch Rechtshandlungen" entstanden sei. Sofern jedoch der Erstattungsanspruch auf den Zahlungen der Gemeinschuldnerin ohne Rechtsgrund beruhen sollte, wären diese Zahlungen selbstverständlich als Rechtshandlung zu beurteilen.
Der Kläger beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und den Abrechnungsbescheid vom 17.07.2014 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 13.07.2015 dahingehend zu ändern, dass ein Guthaben in Höhe von 122.212,81 € festgestellt wird.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Das FA trägt im Wesentlichen vor, eine Forderung sei i.S. von § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet, wenn sämtliche materiell-rechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen für die Entstehung des Erstattungsanspruchs im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfüllt gewesen sind. Dies sei hier der Fall, da die streitigen Umsatzsteuer-Vorauszahlungen ohne rechtlichen Grund geleistet worden seien. Auf die Aufhebung der entsprechenden Steuerbescheide oder Umsatzsteuer-Voranmeldungen komme es insoweit nicht an. Ebenso seien die Voraussetzungen des § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO nicht erfüllt. Das Vorbringen des Klägers sei spekulativ, denn tatsächlich habe die GmbH bereits mit Schreiben vom 12.10.2011, also ca. zwei Wochen vor Stellung des Insolvenzantrags, wegen Zahlungsschwierigkeiten erfolglos um Ratenzahlung für die Umsatzsteuervoranmeldungen für August und September 2011 gebeten.
II. Die Revision ist unbegründet und wird nach § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückgewiesen. Das Urteil entspricht Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 FGO).
1. Der Kläger ist als Insolvenzverwalter mit seiner Bestellung als Partei kraft Amtes an die Stelle des bisherigen Insolvenzverwalters getreten. Die mit dem Tod des bisherigen Insolvenzverwalters eingetretene Unterbrechung entsprechend § 241 Abs. 1 der Zivilprozessordnung endete damit.
2. Das FG ist zutreffend davon ausgegangen, dass der angefochtene Abrechnungsbescheid rechtmäßig ist.
Der von dem Kläger als Insolvenzverwalter über das Vermögen der GmbH geltend gemachte Erstattungsanspruch ist nach § 47 AO erloschen, da das FA gegen diesen Anspruch nach § 226 Abs. 1 AO i.V.m. §§ 387 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) wirksam aufgerechnet hat.
a) Entgegen der Auffassung der Revision ist die Aufrechnung nicht nach § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO unzulässig.
aa) Nach § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO ist die Aufrechnung unzulässig, wenn ein Insolvenzgläubiger erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens etwas zur Insolvenzmasse schuldig geworden ist.
Ob ein Insolvenzgläubiger vor oder nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens etwas zur Insolvenzmasse schuldig geworden ist, bestimmt sich nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats danach, ob der Tatbestand, der den betreffenden Anspruch begründet, nach den steuerrechtlichen Vorschriften bereits vor oder erst nach Insolvenzeröffnung vollständig verwirklicht und damit abgeschlossen ist. Entscheidend ist, ob sämtliche materiell-rechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen für die Entstehung eines Erstattungsanspruchs im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits erfüllt waren (ständige Rechtsprechung, vgl. Senatsurteile vom 15.01.2019 - VII R 23/17, BFHE 263, 305, BStBl II 2019, 329; vom 12.06.2018 - VII R 19/16, BFHE 261, 463, und vom 08.11.2016 - VII R 34/15, BFHE 256, 6, BStBl II 2017, 496, m.w.N.).
Ein Erstattungsanspruch nach § 37 Abs. 2 AO aufgrund zu hoher bzw. nicht geschuldeter Vorauszahlungen entsteht (§ 38 AO) nach ständiger Rechtsprechung bereits im Zeitpunkt der Entrichtung der jeweiligen Vorauszahlung unter der aufschiebenden Bedingung, dass am Ende des Besteuerungszeitraums die geschuldete Steuer geringer ist als die Vorauszahlung (vgl. Senatsurteil vom 20.09.2016 - VII R 10/15, BFH/NV 2017, 442, Rz 18, m.w.N.; Senatsbeschluss vom 26.11.2013 - VII B 243/12, BFH/NV 2014, 581; ebenso Urteil des Bundesgerichtshofs --BGH-- vom 18.04.2013 - IX ZR 90/10, BFH/NV 2013, 1376; s. ferner auch Drüen in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 37 AO Rz 46; Schmieszek in Gosch, AO § 37 Rz 38; Boeker in Hübschmann/ Hepp/Spitaler --HHSp--, § 37 AO Rz 32; Klein/Ratschow, AO, 14. Aufl., § 38 Rz 31). Dementsprechend wird nach der Senatsrechtsprechung der Rechtsgrund für eine Erstattung von Einkommensteuer (auch) im insolvenzrechtlichen Sinne bereits mit der Leistung der entsprechenden Vorauszahlungen gelegt (Senatsurteil vom 28.02.2012 - VII R 36/11, BFHE 236, 202, BStBl II 2012, 451; Senatsbeschluss vom 07.06.2006 - VII B 329/05, BFHE 212, 436, BStBl II 2006, 641; ebenso zum Konkursrecht bereits Senatsurteil vom 06.02.1996 - VII R 116/94, BFHE 179, 547, BStBl II 1996, 557). Für Umsatzsteuer-Vorauszahlungen gilt das gleichermaßen (vgl. Senatsurteil vom 31.05.2005 - VII R 74/04, BFH/NV 2005, 1745, m.w.N.; s.a. Boeker in HHSp, § 37 AO Rz 32; Klein/Ratschow, a.a.O., § 38 Rz 31).
Erst recht muss dies für solche Vorauszahlungen gelten, die von vornherein ohne (materiellen) Rechtsgrund geleistet worden sind; denn in diesem Fall steht der Erstattungsanspruch noch nicht einmal unter einer aufschiebenden Bedingung.
Die (verfahrensrechtliche) Festsetzung des Erstattungsanspruchs und ebenso dessen Änderung oder Aufhebung sind für den Zeitpunkt der insolvenzrechtlichen Entstehung nicht maßgeblich (s. Senatsurteil vom 22.03.2011 - VII R 42/10, BFHE 233, 10, BStBl II 2011, 607, Rz 19, m.w.N.; ebenso BGH-Urteil in BFH/NV 2013, 1376; s. ferner Drüen in Tipke/Kruse, a.a.O., § 37 AO Rz 46; Schmieszek in Gosch, a.a.O., § 37 Rz 38; Klein/ Ratschow, a.a.O., § 38 Rz 30; ebenso: Anwendungserlass zur Abgabenordnung zu § 38 Nr. 2). Ebenfalls nicht maßgeblich ist der Zeitpunkt, zu dem die den zu erstattenden Zahlungen zugrunde liegenden Steuerfestsetzungen oder -anmeldungen aufgehoben worden sind (vgl. Senatsurteile vom 10.05.2007 - VII R 18/05, BFHE 217, 216, BStBl II 2007, 914, und vom 26.04.1994 - VII R 109/93, BFH/NV 1994, 839). Es ist insolvenzrechtlich ausreichend, dass der Sachverhalt, der zu der Entstehung des Erstattungsanspruchs führt, verwirklicht ist (vgl. Senatsurteile vom 05.10.2004 - VII R 69/03, BFHE 208, 10, BStBl II 2005, 195, und vom 16.11.2004 - VII R 75/03, BFHE 208, 296, BStBl II 2006, 193).
An diesen Grundsätzen hat sich entgegen der Auffassung des Klägers durch die Rechtsprechung des Senats zu §§ 14c, 17 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) und zu § 16 des Grunderwerbsteuergesetzes (GrEStG) nichts geändert (a.A. wohl Kahlert, Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2013, 500, 508 f.); denn diese Regelungen gewähren allesamt eigenständige Berichtigungsansprüche mit jeweils eigenen materiell-rechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen, an die sich besondere Rechtsfolgen knüpfen, denen keine Rückwirkung zukommt (s. Senatsurteile in BFHE 238, 307, BStBl II 2013, 36, Rz 17 zu § 17 UStG; in BFHE 256, 6, BStBl II 2017, 496, Rz 14 zu § 14c UStG, und in BFHE 263, 305, BStBl II 2019, 329, Rz 15 zu § 16 GrEStG). Auf den Fall eines Erstattungsanspruchs nach § 37 Abs. 2 AO aufgrund zu hoher bzw. materiell-rechtlich nicht geschuldeter Vorauszahlungen ist diese Rechtsprechung nicht anwendbar.
bb) Ausgehend von diesen Rechtsgrundsätzen ist der hier streitige Erstattungsanspruch des Klägers materiell-rechtlich bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden. Das streitige Guthaben aus der Umsatzsteuer für 2011 beruhte nach den nicht angefochtenen Feststellungen des FG auf Vorauszahlungen, die von der GmbH bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens geleistet wurden, ohne dass hierfür --wegen des Bestehens einer Organschaft mit der GmbH als Organgesellschaft-- ein (materieller) Rechtsgrund bestand. Das FA ist somit in Bezug auf diesen Erstattungsanspruch bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens i.S. von § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO "etwas zur Insolvenzmasse schuldig" geworden.
b) Die Aufrechnung ist auch nicht nach § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO unzulässig gewesen.
Eine Aufrechnung ist nach § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO unzulässig, wenn ein Insolvenzgläubiger die Möglichkeit der Aufrechnung durch eine anfechtbare Rechtshandlung erlangt hat. Gemäß § 129 InsO kann der Insolvenzverwalter Rechtshandlungen, die vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorgenommen worden sind und die Insolvenzgläubiger benachteiligen, nach Maßgabe der §§ 130 bis 146 InsO anfechten. "Rechtshandlung" in diesem Sinne ist jedes Tun oder Unterlassen (§ 129 Abs. 2 InsO), das eine rechtliche Wirkung nach außen auslöst; erfasst werden hierbei nicht nur Willenserklärungen, sondern auch Realakte --wie z.B. Zahlungen-- und Prozess- und Vollstreckungshandlungen (vgl. Senatsurteil vom 02.11.2010 - VII R 6/10, BFHE 231, 488, BStBl II 2011, 374, Rz 25; s. auch Jatzke in HHSp, § 251 AO Rz 265, m.w.N.).
Dass der Erstattungsanspruch des Klägers auf Zahlungen beruht, die die GmbH in dem hier nach §§ 130 ff. InsO maßgeblichen Zeitraum geleistet hätte, hat das FG nicht festgestellt. Es wäre Aufgabe des Klägers gewesen, der sich auf § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO beruft, konkret vorzutragen, welche Zahlungen von der GmbH wann geleistet worden sind; denn die Beweislast für die Voraussetzungen des § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO trifft den Insolvenzverwalter (s. Uhlenbruck, Insolvenzordnung, 15. Aufl., § 96 Rz 71; K. Schmidt/Thole, Insolvenzordnung, 19. Aufl., § 96 Rz 3; MünchKommInsO/Lohmann/Reichelt, 4. Aufl., § 96 Rz 9, m.w.N.; vgl. zu § 55 Nr. 3 der Konkursordnung auch bereits BGH-Urteil vom 27.02.1997 - IX ZR 79/96, BGHZ 135, 30). Dies hat der Kläger nicht getan.
c) Die weiteren, allgemeinen Voraussetzungen der Aufrechnungen (§ 226 AO, §§ 387 ff. BGB) lagen unstreitig vor.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.
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