BFH: Kein Ermessen bei der Neufestsetzung oder Aufhebung der Kindergeldfestsetzung nach § 70 Abs. 3 Satz 1 EStG
Die Regelung des § 70 Abs. 3 Satz 1 EStG, nach der materielle Fehler der letzten Kindergeldfestsetzung durch Neufestsetzung oder durch Aufhebung der Festsetzung beseitigt werden können, räumt der Familienkasse kein Ermessen ein, sondern regelt die Aufhebung oder Neufestsetzung als gebundene Entscheidung (Bestätigung von Tz. V 21.1 Abs. 1 Satz 2 der Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz vom 13.7.2017, BStBl 2017 I S. 1006 = SIS 17 14 60).
BFH-Urteil vom 21.2.2018, III R 14/17 (veröffentlicht am 11.7.2018)
EStG § 70 Abs. 3
Vorinstanz: Sächsisches FG vom 17.10.2016, 6 K 1307/14 (Kg) = SIS 16 26 95
I. Streitig ist die Weitergewährung von Kindergeld für ein über 25 Jahre altes Kind.
Die Beigeladene ist die Mutter eines im Juli 1987 geborenen Sohnes (S). Nachdem S das 25. Lebensjahr vollendet hatte, attestierte ein am 22.12.2012 erstelltes ärztliches Zeugnis S eine psychische Erkrankung, begleitet von einem Drogenmissbrauch. Bei Chronifizierung der psychotischen Störung durch weiteren Substanzkonsum könne eine seelische Behinderung eintreten. Unter der Rubrik "vorrangige Behinderung" war ein Kreuz bei "seelische Behinderung" gesetzt. Das ärztliche Zeugnis diente der Entscheidung über eine vollstationäre Unterbringung des S, die sodann auch erfolgte.
Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) bewilligte der Beigeladenen mit Bescheid vom 9.7.2013 Kindergeld für den zu diesem Zeitpunkt bereits 25-jährigen S wegen dessen Behinderung. Zugleich verfügte sie ab Januar 2013 die Abzweigung des Kindergeldes an den Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger).
Mit Bescheid vom 28.1.2014 hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung mit Wirkung ab Februar 2014 auf. Zur Begründung führte sie aus, dass die Behinderung nicht vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten sei. Da sich die Sachlage und die Erkenntnisse der Familienkasse nicht geändert hatten, stützte sie den Aufhebungsbescheid auf § 70 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) und verfügte auch die Aufhebung der Abzweigung.
Der Einspruch des Klägers blieb ohne Erfolg. In der Einspruchsentscheidung vom 26.8.2014 führte die Familienkasse aus, dass ihr im Rahmen des § 70 Abs. 3 EStG kein Ermessensspielraum zustehe.
Die dagegen gerichtete Klage hatte teilweise Erfolg. Das Finanzgericht (FG) gab ihr insoweit statt, als die Weitergewährung und Abzweigung des Kindergeldes bis August 2014 begehrt wurde. § 70 Abs. 3 EStG sei eine Ermessensvorschrift, die Familienkasse hätte daher entsprechende Ermessenserwägungen bei der aufhebenden Entscheidung anstellen müssen. Soweit der Kläger eine Weitergewährung und Abzweigung des Kindergeldes ab September 2014 begehrte, wies es die Klage mangels Vorliegens einer den Kläger belastenden Verwaltungsentscheidung als unzulässig ab.
Mit der hiergegen gerichteten Revision rügt die Familienkasse die Verletzung materiellen Rechts.
Die Familienkasse beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger und die Beigeladene haben keinen Antrag gestellt.
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
1. Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass § 70 Abs. 3 Satz 1 EStG eine Ermessensvorschrift ist.
Nach § 70 Abs. 3 Satz 1 EStG in der bei Erlass des Aufhebungsbescheids vom 28.1.2014 geltenden Fassung können materielle Fehler der letzten Festsetzung durch Neufestsetzung oder durch Aufhebung der Festsetzung beseitigt werden. Neu festgesetzt oder aufgehoben wird mit Wirkung ab dem auf die Bekanntgabe der Neufestsetzung oder der Aufhebung der Festsetzung folgenden Monat (§ 70 Abs. 3 Satz 2 EStG). Bei der Neufestsetzung oder Aufhebung der Festsetzung nach § 70 Abs. 3 Satz 1 EStG ist § 176 der Abgabenordnung (AO) entsprechend anzuwenden; dies gilt nicht für Monate, die nach der Verkündung der maßgeblichen Entscheidung eines obersten Gerichtshofs des Bundes beginnen (§ 70 Abs. 3 Satz 3 EStG).
a) Die Frage, ob § 70 Abs. 3 Satz 1 EStG der Verwaltung ein Ermessen einräumt, war bisher vom Bundesfinanzhof (BFH) noch nicht entschieden. Die Auffassungen dazu in Rechtsprechung und Literatur sind nicht einheitlich (für Ermessenscharakter: Felix, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 70 Rz D 6; Avvento in Kirchhof, EStG, 17. Aufl., § 70 Rz 4; Claßen in Lademann, EStG, § 70 EStG Rz 11; Bergkemper, Finanz-Rundschau 2000, 136, 138; Helmke in Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach A, I. Kommentierung, § 70 Rz 16; Wendl in Herrmann/Heuer/Raupach, § 70 EStG Rz 16; FG Baden-Württemberg, Urteil vom 29.9.1998 12 K 131/97, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1999, 243; FG Köln, Urteil vom 7.10.1999 2 K 7548/98, EFG 2000, 81; FG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 4.8.2009 4 K 691/05, EFG 2010, 13; für gebundene Entscheidung dagegen: Schmidt/Weber-Grellet, EStG, 36. Aufl., § 70 Rz 7; Blümich/Treiber, § 70 EStG Rz 31; Reuß in Bordewin/Brandt, § 70 EStG Rz 66; Pust in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 70 Rz 216; Tiedchen, Deutsche Steuer-Zeitung 2000, 237; Greite in Korn, § 70 EStG Rz 18; Geurtz in Frotscher, EStG, Freiburg 2011, § 70 Rz 17; FG München, Urteil vom 25.9.2012 12 K 466/10, EFG 2013, 60; FG Nürnberg, Urteil vom 20.11.2014 3 K 1533/13, juris = SIS 15 04 64). Der erkennende Senat entscheidet die Frage dahingehend, dass § 70 Abs. 3 Satz 1 EStG der Familienkasse bei der Entscheidung über die Fehlerkorrektur kein Ermessen einräumt. § 70 Abs. 3 Satz 1 regelt die Aufhebung oder Neufestsetzung vielmehr als gebundene Entscheidung. Bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen ist sie vorzunehmen.
aa) Zwar wird der im Wortlaut des § 70 Abs. 3 Satz 1 EStG enthaltene Begriff "können" auch für die Einräumung eines Ermessensspielraums genutzt (Wernsmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler - HHSp -, § 5 AO Rz 54, mit Beispielen; Lange in HHSp, § 102 FGO Rz 36; Neumann in Beermann/Gosch, § 5 AO Rz 9). Dies ist jedoch nicht zwingend. Vielmehr kann dieser Begriff auch im Sinne eines sogenannten "Kompetenz-Kann" verstanden werden (Wernsmann in HHSp, § 5 AO Rz 55). Davon ist im Fall des § 70 Abs. 3 Satz 1 EStG auszugehen. Der Begriff "können" bestimmt lediglich die beiden Änderungsmöglichkeiten Neufestsetzung oder Aufhebung (ebenso Reuß, EFG 2013, 62).
bb) Für eine gebundene Entscheidung spricht auch der systematische Zusammenhang des § 70 Abs. 3 EStG zu § 70 Abs. 2 EStG. Denn § 70 Abs. 2 EStG sieht ausdrücklich vor, dass bei Änderung der Verhältnisse die Festsetzung aufzuheben oder zu ändern "ist". Gründe, warum bei Änderung der Verhältnisse zwingend zu ändern ist, hingegen bei Annahme eines Rechtsfehlers oder eines unzutreffenden Sachverhalts, der Behörde - über die bereits gesetzlich normierte zeitliche Beschränkung, eine Änderung nur für die Zukunft vorzunehmen - zusätzlich auch ein Ermessensspielraum einzuräumen ist, sind nicht erkennbar. Für dieses Normverständnis sprechen insbesondere auch die Gesetzesmaterialien. So sollte nach der Entwurfsbegründung (BTDrucks 13/3084, S. 21) der neugeschaffene § 70 Abs. 3 EStG "sicherstellen", dass die Familienkassen materielle Fehler der Kindergeldfestsetzung, z.B. Rechtsfehler, mit Wirkung für die Zukunft beseitigen können. Es "muss vermieden werden", dass sie "über einen Zeitraum von vielen Jahren an eine als fehlerhaft erkannte Kindergeldfestsetzung gebunden bleiben" (Entwurfsbegründung BTDrucks 13/3084, S. 21). Von einem Ermessen ist dort keine Rede.
cc) § 70 Abs. 3 EStG selbst lässt keine Kriterien erkennen, die für eine Ermessensausübung leitend sein könnten. Lassen sich aber keine Maßstäbe für einen Ermessensspielraum dahingehend finden, unter welchen Umständen von einer durch Tatbestandserfüllung möglichen Änderung einer Steuerfestsetzung abgesehen werden kann, bedeutet "können" ein rechtliches Können und im Hinblick darauf, dass die Familienkasse einen Steueranspruch nicht zu Unrecht begründen darf, ein "Müssen" (ebenso zu § 174 Abs. 4 AO BFH-Urteil vom 14.3.2012 XI R 2/10, BFHE 237, 391, BStBl II 2012, 653, Rz 43; zu § 174 Abs. 3 AO BFH-Urteil vom 13.11.1985 II R 208/82, BFHE 145, 487, BStBl II 1986, 241, unter II.2.b, jeweils m.w.N.).
dd) Der Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes bedarf keiner Berücksichtigung durch die Einräumung eines Ermessensspielraums. Denn diesem Gesichtspunkt wird zum einen bereits dadurch Rechnung getragen, dass die Neufestsetzung oder Änderung nach § 70 Abs. 3 Satz 1 EStG nur mit Wirkung für die Zukunft vorgenommen werden darf. Zum anderen verweist § 70 Abs. 3 Satz 2 EStG in eingeschränktem Umfang auch auf die Vertrauensschutzregelung des § 176 AO. Darüber hinaus besteht kein Grund, das Vertrauen des Begünstigten zu schützen, so dass regelmäßig nur in Betracht kommt, eine rechtswidrige Festsetzung im Interesse der Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung durch Aufhebung oder Neufestsetzung zu korrigieren. Ferner hat der BFH bereits entschieden, dass der Gesetzgeber auch nicht verpflichtet war, Vertrauensschutzregelungen wie in § 45 Abs. 2 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch im einkommensteuerrechtlichen Kindergeldrecht vorzusehen (dazu BFH-Urteil vom 19.11.2008 III R 108/06, BFH/NV 2009, 357).
2. Die Sache ist nicht entscheidungsreif. Das FG hat aus seiner Sicht zu Recht bislang offen gelassen, ob im Übrigen die Aufhebungsvoraussetzungen des § 70 Abs. 3 Satz 1 EStG, nämlich die materiellen Fehler der letzten Festsetzung, vorlagen. Die Sache wird daher gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO an das FG zurückverwiesen, um diesem Gelegenheit zu weiteren Feststellungen zu geben, insbesondere zu der Frage, ob bei S eine Behinderung i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist.
3. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG folgt aus § 143 Abs. 2 FGO.
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