BFH: Vorrangiger Kindergeldanspruch des im anderen EU-Mitgliedstaat wohnenden Elternteils
- Der Kindergeldanspruch eines in Deutschland wohnhaften Elternteils für sein in Ungarn im Haushalt des anderen Elternteils lebendes Kind kann nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG i.V.m. Art. 67 der VO Nr. 883/2004, Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 durch den vorrangigen Kindergeldanspruch des anderen Elternteils verdrängt werden.
- Besteht in Deutschland oder in dem anderen Mitgliedstaat der EU ein gemeinsamer Haushalt der beiden Elternteile, in den das gemeinsame Kind aufgenommen ist, richtet sich die vorrangige Anspruchsberechtigung nach § 64 Abs. 2 Sätze 2 bis 4 EStG.
BFH-Urteil vom 4.8.2016, III R 10/13 (veröffentlicht am 9.11.2016)
EStG § 62 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, § 63 Abs. 1, § 64 Abs. 2 Sätze 1 bis 4
VO Nr. 883/2004 Art. 67
VO Nr. 987/2009 Art. 60 Abs. 1
Vorinstanz: FG Münster vom 1.2.2013, 4 K 385/12 Kg,AO (EFG 2013 S. 711 = SIS 13 12 39)
I. Streitig ist im Revisionsverfahren noch der Kindergeldanspruch von Mai 2010 bis Januar 2012 (Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung vom 3.1.2012).
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist deutscher Staatsangehöriger und hat seinen Wohnsitz im Inland. Aus der 2005 geschlossenen Ehe mit einer ungarischen Staatsangehörigen (Kindsmutter) ging eine im Februar 2006 geborene Tochter (T) hervor.
Der Kläger war bis Ende September 2010 nichtselbständig erwerbstätig und erhielt danach bis Ende September 2011 aufgrund der Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses Arbeitslosengeld I nach § 117 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch.
Am 1.2.2009 verzog T mit der Kindsmutter nach Ungarn und behielt keinen weiteren Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) bei.
Der Kläger bezog für T bis Januar 2011 inländisches Kindergeld. Nachdem die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) von der Wohnsitzverlagerung Kenntnis erlangt und weitere Ermittlungen zu den familiären Verhältnissen angestellt hatte, hob sie die Festsetzung des Kindergeldes für T mit Bescheid vom 2.5.2011 ab Februar 2009 auf. Im außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren half die Familienkasse dem Einspruch mit Bescheid vom 27.12.2011 für den Zeitraum Februar 2009 bis April 2010 teilweise ab und wies ihn im Übrigen mit Einspruchsentscheidung vom 3.1.2012 als unbegründet zurück.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2013, 711 veröffentlichten Gründen statt und hob den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid und die hierauf ergangene Einspruchsentscheidung auf.
Mit der hiergegen vom FG zugelassenen Revision rügt die Familienkasse die Verletzung materiellen Rechts.
Die Familienkasse beantragt,
das angefochtene FG-Urteil insoweit aufzuheben, als es den Aufhebungsbescheid vom 2.5.2011 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 27.12.2011 und der Einspruchsentscheidung vom 3.1.2012 hinsichtlich der Kindergeldfestsetzung ab Mai 2010 aufhebt und die Klage insoweit abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Mit Beschluss vom 12.1.2015 hat der Bundesfinanzhof (BFH) das Ruhen des Verfahrens angeordnet, bis der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) über das bei ihm anhängige Vorabentscheidungsersuchen C-378/14 entschieden hat. Der EuGH hat mit Urteil Trapkowski vom 22.10.2015 C-378/14 (EU:C:2015:720, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst 2015, 1501) über die Vorlagefragen entschieden.
II. Die Revision ist begründet. Die Vorentscheidung ist für den Zeitraum von Mai 2010 bis Januar 2012 (Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung vom 3.1.2012) aufzuheben und die Sache mangels Spruchreife zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Das FG hat zwar zu Recht eine Anspruchsberechtigung des Klägers bejaht (dazu 1.). Es fehlen aber für den Streitzeitraum hinreichende tatsächliche Feststellungen dazu, ob der Anspruch nicht (teilweise) durch vorrangige Ansprüche der Kindsmutter verdrängt wird (dazu 2. bis 5.).
1. Der Kläger erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 des Einkommensteuergesetzes (EStG).
Nach den für den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des FG (vgl. § 118 Abs. 2 FGO) erfüllt der Kläger - was zwischen den Beteiligten auch nicht streitig ist - die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2, § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 EStG. Unerheblich ist, dass T ihren Wohnsitz in Ungarn hat (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG).
2. Allerdings könnte die Kindsmutter - entgegen der Rechtsauffassung des FG - nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig anspruchsberechtigt sein, weil gemäß Art. 67 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union - ABlEU - 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung - VO Nr. 883/2004 (Grundverordnung) - i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.9.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung - VO Nr. 987/2009 (Durchführungsverordnung) - zu unterstellen ist, dass sie mit T in Deutschland wohnt.
a) Nach § 64 Abs. 1 EStG wird für jedes Kind nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG).
b) Im Streitfall ergibt sich die Anspruchsberechtigung der Kindsmutter aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Zwar liegt der nach dieser Vorschrift erforderliche Inlandswohnsitz tatsächlich nicht vor, da die Kindsmutter nach den Feststellungen des FG am 1.2.2009 mit T nach Ungarn verzog und in Deutschland keinen weiteren Wohnsitz beibehielt. Es finden jedoch die Vorschriften der VO Nr. 883/2004 und der VO Nr. 987/2009 Anwendung. Dadurch wird gemäß Art. 67 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ein Inlandswohnsitz der Kindsmutter fingiert.
3. Der Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 ist im Streitfall eröffnet und Deutschland ist danach der zuständige Mitgliedstaat.
a) Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundverordnung.
b) Da der Kläger im Streitzeitraum in Deutschland nichtselbständig erwerbstätig oder arbeitslos war, unterlag er den deutschen Rechtsvorschriften (Art. 11 Abs. 3 Buchst. a, Buchst. c, oder jedenfalls Buchst. e der VO Nr. 883/2004).
4. Aus Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 folgt, dass die Wohnsituation der Kindsmutter (fiktiv) in das Inland übertragen wird. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Kindsmutter im Streitzeitraum in Ungarn ein Anspruch auf Familienleistungen zustand oder geltend gemacht wurde und eine von Art. 68 der VO Nr. 883/2004 erfasste Konkurrenzsituation vorlag. Insoweit verweist der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen auf das Senatsurteil vom 28.4.2016 III R 68/13 (BFH/NV 2016, 1514). Zudem gehört die Kindsmutter - ungeachtet einer etwaigen Trennung vom Kläger - zu den "beteiligten Personen" i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 (Senatsurteil in BFH/NV 2016, 1514). Es wird deshalb fingiert, dass die Kindsmutter das Wohnsitzerfordernis des § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG erfüllt.
Schließlich kommt es auch nicht darauf an, ob die Kindsmutter selbst einen Antrag auf Kindergeld in Deutschland gestellt hat (Senatsurteil in BFH/NV 2016, 1514).
5. Das FG wird jedoch noch festzustellen haben, ob die Kindsmutter neben dem Wohnsitzerfordernis auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch erfüllt.
a) Zwar dürfte aufgrund der ungarischen Staatsangehörigkeit der Kindsmutter davon auszugehen sein, dass diese eine freizügigkeitsberechtigte Ausländerin ist und daher nicht vom Anwendungsbereich des § 62 Abs. 2 EStG erfasst wird. Ggf. sind hierzu aber weitere Feststellungen zu treffen. Zu den Voraussetzungen des Begriffs des Freizügigkeitsberechtigten verweist der Senat auf seinen Beschluss vom 27.4.2015 III B 127/14 (BFHE 249, 519, BStBl II 2015, 901).
b) Ein vorrangiger Anspruch des Klägers könnte sich aber aus § 64 Abs. 2 Sätze 2 bis 4 EStG ergeben. Dies würde jedoch neben einer Berechtigtenbestimmung zugunsten des Klägers einen gemeinsamen Haushalt zwischen dem Kläger und der Kindsmutter in Deutschland und/oder Ungarn voraussetzen, in den T aufgenommen wurde. Insoweit hat das FG zwar ausgeführt, dass die Kindsmutter in Deutschland keinen (weiteren) Wohnsitz mehr unterhielt. Zu den konkreten Lebensverhältnissen der Eltern und der Art ihrer Haushaltsführung fehlen bislang jedoch nähere Feststellungen, obwohl der Kläger und die Kindsmutter bereits im Verwaltungsverfahren vorgetragen hatten, dass sie nicht dauernd getrennt lebten.
Das FG wird weiter zu beachten haben, dass sich der Streitzeitraum bis Januar 2012 erstreckt (vgl. zur Regelungswirkung im Falle des Einspruchs gegen einen die Kindergeldfestsetzung aufhebenden Bescheid Senatsurteil vom 4.8.2011 III R 71/10, BFHE 235, 203, BStBl II 2013, 380). Die bisherigen Feststellungen des FG beziehen sich nur auf den Zeitraum bis Januar 2011.
Auf die Höhe der vom Kläger erbrachten Unterhaltsrente kommt es für die Bestimmung der vorrangigen Kindergeldberechtigung dagegen nicht an, da diese nach § 64 Abs. 3 EStG nur für Kinder, die - anders als im Streitfall - nicht in den Haushalt eines Berechtigten aufgenommen sind, von Bedeutung sein kann.
6. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
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