BFH: Verletzung des rechtlichen Gehörs durch Entscheidung im vereinfachten Verfahren nach § 94a Satz 1 FGO ohne vorherige Anordnung
- Das FG verletzt den Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör, wenn es gemäß § 94a Satz 1 FGO im vereinfachten Verfahren ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheidet, ohne dem Beteiligten zuvor seine dahingehende Absicht und den Zeitpunkt mitzuteilen, bis zu dem er sein Vorbringen in den Prozess einführen kann.
- Das Gericht erfüllt diese Hinweispflicht jedenfalls gegenüber einem nicht fachkundig vertretenen Beteiligten nicht, wenn es nur darauf hinweist, "alsbald ein Urteil nach billigem Ermessen gemäß § 94a FGO" fällen zu wollen und eine Frist ohne weitere Erläuterung ("Frist: 4 Wochen") einräumt.
BFH-Beschluss vom 6.6.2016, III B 92/15 (veröffentlicht am 20.7.2016)
GG Art. 103 Abs. 1
FGO § 11 Abs. 3, § 94a, § 115 Abs. 2 Nr. 3
BVerfGG § 31 Abs. 1
ZPO § 495a
Vorinstanz: Hessisches FG vom 29.7.2015, 5 K 504/15
I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) ist die Mutter einer im September 1989 geborenen Tochter (T). T nahm an einem siebensemestrigen berufsbegleitenden Studiengang teil, brach diesen jedoch vorzeitig ab.
Die Beklagte und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) hob die zugunsten der Klägerin für T erfolgte Kindergeldfestsetzung mit Bescheid vom 6.1.2014 auf und forderte das insoweit für den Zeitraum Juni 2013 bis November 2013 bereits ausbezahlte Kindergeld in Höhe von 1.104 € von der Klägerin zurück. Der Bescheid wurde bestandskräftig.
Ein insoweit wegen Steuerhinterziehung und Betrugs durchgeführtes strafrechtliches Ermittlungsverfahren wurde nach § 153 Abs. 1 der Strafprozessordnung wegen Geringfügigkeit eingestellt. Mit weiterem Bescheid vom 5.1.2015 setzte die Familienkasse gegen die Klägerin Hinterziehungszinsen in Höhe von 25 € fest. Das dagegen geführte Einspruchsverfahren blieb ohne Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 12.2.2015).
Im sich anschließenden Klageverfahren machte die Klägerin im Wesentlichen geltend, sie sei zwar bereit, die 25 € zu zahlen, wehre sich aber gegen den Vorwurf der Steuerhinterziehung. Ihre Tochter habe bereits ein eigenes Leben geführt, den Ausbildungsabbruch nicht rechtzeitig mitgeteilt und diesen erst auf mehrfache Nachfrage auf das Ende des Schuljahres 2012/2013 datiert.
Entgegen der formblattmäßigen Verfügung des Vorsitzenden wies das Finanzgericht (FG) nur die Familienkasse, nicht hingegen die Klägerin darauf hin, dass der Rechtsstreit gemäß §§ 5 Abs. 3 Satz 1, 6 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auf den Einzelrichter übertragen werden kann. Mit Beschluss vom 1.6.2015 wurde der Rechtsstreit auf den Einzelrichter übertragen.
Dieser legte den Beteiligten in einem Schreiben vom 1.6.2015 seine Rechtsauffassung dar. Ferner enthielt das Schreiben folgenden Zusatz: "Es wird darauf hingewiesen, dass das Gericht bei einem Streitwert von 25,00 EUR alsbald ein Urteil nach billigem Ermessen gemäß § 94a FGO fällen wird. Frist: 4 Wochen". Mit Schreiben vom 4.7.2015 machte die Klägerin weitere Ausführungen zur Sache. Sodann wies der Einzelrichter die Klage am 29.7.2015 gemäß § 94a FGO ohne mündliche Verhandlung ab.
Mit ihrer Beschwerde begehrt die Klägerin, die Revision gegen das Urteil wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) und Verfahrensmängeln (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) zuzulassen. Letztere ergäben sich daraus, dass das FG den Rechtsstreit ohne vorherige Anhörung auf den Einzelrichter übertragen und zu Unrecht nicht darauf hingewiesen habe, dass es ohne mündliche Verhandlung entscheiden werde.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig und begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 FGO).
1. Das FG hat das grundrechtsgleiche Recht der Klägerin auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG -) verletzt, da es ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ohne dies der Klägerin zuvor in hinreichender Deutlichkeit mitzuteilen. Hierin liegt ein Verfahrensmangel, auf dem das angefochtene Urteil beruht (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).
a) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) begründet Art. 103 Abs. 1 GG zwar keinen Anspruch auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung, stellt jedoch sicher, dass sich jeder Verfahrensbeteiligte vor dem Erlass einer gerichtlichen Entscheidung zu dem ihr zugrunde liegenden Sachverhalt äußern und Anträge stellen kann (Kammerbeschluss des BVerfG vom 18.11.2008 2 BvR 290/08, Neue Juristische Wochenschrift - Rechtsprechungs-Report Zivilrecht - NJW-RR - 2009, 562, m.w.N.). Insoweit hielt es das BVerfG in einem Fall, in dem ein Zivilgericht gemäß § 495a der Zivilprozessordnung (ZPO) im vereinfachten Verfahren ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entschieden hatte, für unbeachtlich, dass diese Prozessrechtsnorm selbst eine Anordnung des schriftlichen Verfahrens nicht vorschreibt. Denn es leitete eine dahingehende Pflicht des Gerichts unmittelbar aus Art. 103 Abs. 1 GG ab. Zur Begründung verwies es darauf, dass den Parteien sonst die Möglichkeit genommen werde, einen Antrag auf mündliche Verhandlung gemäß § 495a Satz 2 ZPO zu stellen (BVerfG-Kammerbeschlüsse in NJW-RR 2009, 562; vom 4.8.1993 1 BvR 279/93, NJW-RR 1994, 254, und Senatsbeschluss vom 14.6.1983 1 BvR 545/82, BVerfGE 64, 203). Um dieses Antragsrecht nicht einzuschränken, muss das Gericht, wenn es sich für ein schriftliches Verfahren entscheidet, den Parteien seine Absicht und den Zeitpunkt mitteilen, bis zu dem die Parteien ihr Vorbringen in den Prozess einführen können (BVerfG-Kammerbeschluss in NJW-RR 2009, 562).
Diese Grundsätze finden auch auf das finanzgerichtliche Verfahren Anwendung. Wie § 495a Satz 1 ZPO ermöglicht § 94a Satz 1 FGO bei Einhaltung der dort geregelten Streitwertgrenze ein Verfahren nach billigem Ermessen und mithin ein schriftliches Verfahren. Entsprechend § 495a Satz 2 ZPO räumt § 94a Satz 2 FGO den Beteiligten das Recht ein, mittels eines Antrags eine mündliche Verhandlung herbeizuführen.
Zwar hatte der Bundesfinanzhof (BFH) bislang in ständiger Rechtsprechung entschieden, aus § 94a FGO ergebe sich kein solches Hinweiserfordernis (BFH-Beschlüsse vom 10.1.1995 IV B 90/94, BFH/NV 1995, 802; vom 11.1.1995 II B 64/94, BFH/NV 1995, 705; vom 16.6.1995 X B 237/94, BFH/NV 1995, 1062; vom 26.3.1996 XI B 132/95, BFH/NV 1996, 696; vom 19.4.1996 VIII B 41/95, BFH/NV 1996, 745; vom 17.5.2001 IX R 67/98, BFH/NV 2001, 1290; vom 27.5.2002 VII B 187/01, BFH/NV 2002, 1356, und vom 3.11.2004 X B 121/03, BFH/NV 2005, 350; ebenso bereits zur Vorgängervorschrift des Art. 3 § 5 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit vgl. BFH-Beschlüsse vom 22.7.1983 VI B 180/82, BFHE 139, 22, BStBl II 1983, 762, und vom 5.6.1986 IX R 152/84, BFH/NV 1986, 629). Diese Rechtsprechung ist aber durch die Entscheidung des BVerfG in NJW-RR 2009, 562 überholt (in diesem Sinne auch Brandis in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 94a FGO Rz 2; Loschelder, Der AO-Steuerberater 2009, 272). Denn danach ist die Hinweispflicht unmittelbar aus Art. 103 Abs. 1 GG abzuleiten.
Einer Divergenzanfrage bei den betroffenen Senaten gemäß § 11 Abs. 3 FGO bedarf es nicht, da die durch das BVerfG vorgenommene Auslegung des Art. 103 Abs. 1 GG gemäß § 31 Abs. 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetztes (BVerfGG) für alle Gerichte bindend ist (Urteil des Bundesgerichtshofs vom 1.12.1997 II ZR 85/97, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1998, 687; Sunder-Plassmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 11 FGO Rz 61; Brandis in Tipke/Kruse, a.a.O., § 11 FGO Rz 8; Zöller/Lückemann, ZPO, 31. Aufl., § 132 GVG Rz 4).
b) Im Streitfall hat das FG dieser Hinweispflicht nicht genügt. Zum einen ist aus dem Hinweis "alsbald ein Urteil nach billigem Ermessen gemäß § 94a FGO fällen" zu wollen, jedenfalls bei einem nicht fachkundig vertretenen Beteiligten - wie im Streitfall der Klägerin - nicht mit hinreichender Deutlichkeit die Absicht des Gerichts erkennbar, im schriftlichen Verfahren entscheiden zu wollen. Zum anderen lässt sich aus dem apodiktischen Hinweis "Frist: 4 Wochen" nicht mit hinreichender Klarheit ableiten, dass es sich insoweit um die Frist handelt, bis zu der die Beteiligten ihr Vorbringen noch in den Prozess einführen können; dies gilt erst recht für nicht fachkundig vertretene Beteiligte.
2. Kein Verfahrensfehler ist gegeben, soweit das FG den Rechtsstreit auf den Einzelrichter übertragen hat, ohne die Klägerin vorher anzuhören. Eine solche vorherige Anhörung ist in § 6 Abs. 1 FGO - anders als im Fall der Rückübertragung nach § 6 Abs. 3 FGO - nicht vorgesehen, was den Schluss zulässt, dass der Gesetzgeber bei der Übertragung von einer Anhörung absehen wollte (ständige BFH-Rechtsprechung, z.B. Urteil vom 16.9.1999 XI R 83/97, BFH/NV 2000, 332; Beschluss vom 22.1.2009 VIII B 78/08, BFH/NV 2009, 779). Im Übrigen könnte jedenfalls das Schreiben vom 4.7.2015, in dem die Klägerin die nunmehr mit der Beschwerde vorgebrachten Einwände nicht geltend gemacht hat, als rügelose Einlassung gedeutet werden, die der Geltendmachung des Verfahrensmangels entgegenstünde (BFH-Beschluss vom 21.10.2011 VII B 69/11, BFH/NV 2012, 248).
3. Da das Urteil bereits aufgrund des unter 1. dargestellten Verfahrensfehlers keinen Bestand haben kann, bedarf es keines Eingehens auf das weitere Vorbringen der Klägerin. Von einer weiteren Begründung wird nach § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO, der auch für den Beschluss nach § 116 Abs. 6 FGO gilt, abgesehen (vgl. BFH-Beschlüsse vom 25.10.2012 X B 22/12, BFH/NV 2013, 226; vom 23.9.2002 IV B 156/00, BFH/NV 2003, 191).
4. Im Übrigen weist der Senat - ohne Bindungswirkung - auf Folgendes hin. Hinsichtlich des subjektiven Tatbestands der Steuerhinterziehung kommt bei der Prüfung des Vorliegens eines bedingten Vorsatzes der Abgrenzung zur (bewussten) Fahrlässigkeit besondere Bedeutung zu (s. hierzu etwa Ransiek in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rz 610 ff.). Entscheidend für das Vorliegen des bedingten Vorsatzes ist dabei, dass der Täter nicht auf die Richtigkeit seiner Angaben vertraut, sondern es wenigstens ernsthaft für möglich hält und billigt, dass er die Finanzbehörde über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lässt (s. hierzu Ransiek in Kohlmann, a.a.O., § 370 AO Rz 614, 625). Insoweit könnte bei der Gesamtwürdigung der Umstände insbesondere auch von Bedeutung sein,
- durch welches Ereignis und an welchem Tag genau der Studiengang abgebrochen wurde sowie wann die Ausschulung erfolgte,
- ob und gegebenenfalls in welcher Form und Art und Weise der Informationsaustausch zwischen T und der Klägerin vereinbart war und tatsächlich stattfand,
- wann die Klägerin von dem genauen Abbruch- und dem Ausschulungstermin erfuhr oder ab wann ihr sonstige Umstände bekannt wurden, die auf einen vorzeitigen Abbruch des Studiengangs hindeuteten, und
- wann die Klägerin vor Abbruch des berufsbegleitenden Studiengangs durch T die Familienkasse zuletzt über das Fortbestehen der Anspruchsvoraussetzungen informiert hatte.
5. Der Senat hält es für sachgerecht, die Vorentscheidung nach § 116 Abs. 6 FGO aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
6. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
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