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EuGH zum Kindergeld: Sperrfrist für EU-Ausländer nach § 62 Abs. 1 a EStG unionsrechtswidrig

Ein Unionsbürger, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Aufnahmemitgliedstaat begründet hat, kann nicht deshalb während der ersten drei Monate seines Aufenthalts vom Bezug von Kindergeld ausgeschlossen werden, weil er keine Einkünfte aus einer Erwerbstätigkeit in diesem Mitgliedstaat bezieht
Sofern er sich rechtmäßig aufhält, genießt er grundsätzlich Gleichbehandlung mit den inländischen Staatsangehörigen

Gerichtshof der Europäischen Union, Pressemitteilung Nr. 134/22 vom 1. August 2022
Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache C-411/20, Familienkasse Niedersachsen-Bremen

Eine aus einem anderen Mitgliedstaat als Deutschland stammende Unionsbürgerin klagt vor einem deutschen Gericht gegen die Ablehnung ihres Kindergeldantrags für ihre drei Kinder durch die Familienkasse Niedersachsen-Bremen der Bundesagentur für Arbeit für die ersten drei Monate nach Begründung ihres Aufenthalts in Deutschland.

Die Familienkasse war der Auffassung, dass die Antragstellerin nicht die im Juli 2019 in Deutschland eingeführten Voraussetzungen erfülle, um als Unionsbürgerin Kindergeld während der ersten drei Monate beanspruchen zu können, weil sie in dieser Zeit keine „inländischen Einkünfte“ bezogen habe. Mit diesem Erfordernis zielte der deutsche Gesetzgeber darauf ab, einen Zustrom von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten zu vermeiden, der zu einer unangemessenen Inanspruchnahme des deutschen Systems der sozialen Sicherheit führen könne. Dieses Erfordernis gilt dagegen nicht für deutsche Staatsangehörige, die von einem Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat zurückkehren.

Das deutsche Gericht hat dem Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob diese unterschiedliche Behandlung mit dem Unionsrecht vereinbar ist.

Mit seinem heutigen Urteil weist der Gerichtshof darauf hin, dass jeder Unionsbürger, auch wenn er wirtschaftlich nicht aktiv ist, das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten hat, wobei er lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein muss und ansonsten keine weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen braucht, solange er und seine Familienangehörigen die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen. In diesem Fall ist ihr Aufenthalt grundsätzlich rechtmäßig.

Während dieser Zeit genießen die Unionsbürger vorbehaltlich vom Unionsgesetzgeber ausdrücklich vorgesehener Ausnahmen die gleiche Behandlung wie Inländer.

Der Aufnahmemitgliedstaat kann zwar gemäß einer im Unionsrecht zu diesem Zweck vorgesehenen Ausnahmebestimmung einem wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürger in den ersten drei Monaten seines Aufenthalts eine Sozialhilfeleistung verweigern1.

Das in Rede stehende Kindergeld stellt aber keine Sozialhilfeleistung im Sinne dieser Ausnahmebestimmung dar. Es wird nämlich unabhängig von der persönlichen Bedürftigkeit seines Empfängers gewährt und dient nicht der Sicherstellung seines Lebensunterhalts, sondern dem Ausgleich von Familienlasten.

Da hinsichtlich solcher Familienleistungen eine Ausnahme vom Grundsatz der Gleichbehandlung von Inländern und Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats nicht vorgesehen ist, steht das Unionsrecht der vom deutschen Gesetzgeber eingeführten Ungleichbehandlung entgegen.

Auf die Gleichbehandlung kann sich der betreffende Unionsbürger allerdings nur berufen, wenn er während der fraglichen ersten drei Monate tatsächlich seinen gewöhnlichen Aufenthalt in dem Aufnahmemitgliedstaat begründet hat. Ein nur vorübergehender Aufenthalt genügt insoweit nicht.

Die Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts in den Aufnahmemitgliedstaat impliziert, dass die betreffende Person den Willen zum Ausdruck gebracht hat, dort tatsächlich den gewöhnlichen Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen zu errichten, und nachweist, dass ihre Anwesenheit im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats hinreichend dauerhaft ist, um sie von einem vorübergehenden Aufenthalt zu unterscheiden.

HINWEIS: Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.
Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet.

Der Volltext des Urteils wird am Tag der Verkündung auf der Curia-Website veröffentlicht.


1 Vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 25. Februar 2016, García-Nieto u. a., C-299/14 (vgl. auch Pressemitteilung Nr. 18/16)  

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