BFH: Verböserung im Einspruchsverfahren - Treu und Glauben - selbst gesetzte Frist
- Hat das FA im Einspruchsverfahren eine Frist bestimmt, bis zu der es dem Steuerpflichtigen möglich sein soll, bei Vermeidung der zugleich angedrohten Verböserung den Einspruch zurückzunehmen, so kann ein Verstoß gegen Treu und Glauben vorliegen, wenn es gleichwohl vor Ablauf der selbst gesetzten Frist die (verbösernde) Einspruchsentscheidung erlässt.
- Der Verstoß stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel dar, der abweichend vom Grundsatz des § 127 AO zur Aufhebung der verbösernden Einspruchsentscheidung führt.
BFH-Urteil vom 15.5.2013, VIII R 18/10 (veröffentlicht am 17.7.2013)
AO § 127, § 367 Abs. 2 Satz 2
FGO § 118 Abs. 2
Vorinstanz: Niedersächsisches FG vom 12.6.2009, 2 K 128/09 (EFG 2010 S. 1006 = SIS 10 16 64)
I. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) setzte gegen den Kläger und Revisionskläger (Kläger) Aussetzungszinsen in Höhe von 168 € fest. Dagegen erhob der Kläger Einspruch. Das FA forderte den Kläger mit Schreiben vom 18.3.2009 auf, seinen Einspruch zu begründen und teilte im Übrigen mit, die Überprüfung nach § 367 Abs. 2 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) habe ergeben, dass die Zinsen verbösernd auf 1.181 € festgesetzt werden müssten. In dem Schreiben heißt es u.a. wörtlich:
"Bitte reichen Sie die erforderliche Einspruchsbegründung bis zum 15.4.2009 nach. ...
Ich bitte um Prüfung und Antwort bis zum 15.4.2009.
Ich rege an, dass Sie den Einspruch bis zum 15.4.2009 schriftlich zurücknehmen."
Mit Schreiben vom 26.3.2009 begründete der Kläger seinen Einspruch mit einem Satz. Außerdem bat er um Mitteilung, wie die Aussetzungszinsen ermittelt worden seien. Die Zinsfestsetzung sei für ihn nicht nachvollziehbar. Deshalb sei auch eine Einspruchsbegründung "naturgemäß" nicht möglich. Ferner beantragte der Kläger den Erlass der Aussetzungszinsen sowie die Aussetzung der Vollziehung (AdV).
Am 30.3.2009 wies das FA den Einspruch zurück und setzte die Aussetzungszinsen auf 1.181 € fest. In der Einspruchsentscheidung heißt es u.a. wörtlich: "Die Einwendungen des Ef. sind unverständlich, im Übrigen jedenfalls vollständig unzutreffend. Sie dienen offensichtlich nur der Vermeidung der Bestandskraft der Zinsfestsetzung."
Mit Schreiben vom 15.4.2009, bei dem FA eingegangen am 16.4.2009, erklärte der Kläger, er könne zwar den Sachverhalt nicht verstehen, folge jedoch der Anregung des FA und nehme den Einspruch zurück. Die Einspruchsentscheidung sei aufzuheben. Das FA lehnte die Aufhebung ab und erklärte, die Rücknahme des Einspruchs gehe ins Leere.
Dagegen hat der Kläger Klage erhoben, die das Finanzgericht (FG) mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2010, 1006 veröffentlichten Urteil abgewiesen hat.
Dagegen richtet sich die Revision, mit der der Kläger die Verletzung von Bundesrecht (Grundsatz von Treu und Glauben) rügt.
Der Kläger beantragt sinngemäß, die Vorentscheidung sowie die Einspruchsentscheidung vom 30.3.2009 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise als unbegründet zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben übereinstimmend auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
II. Die Revision ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Stattgabe der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO - hier: Aufhebung der verbösernden Einspruchsentscheidung).
1. Das FG hat zur Begründung ausgeführt, der Kläger habe den Einspruch nicht rechtzeitig zurückgenommen. Aus dem Schreiben des Klägers vom 26.3.2009 habe das FA nur folgern können, dass der Kläger endgültig an seinem Einspruch festhalte. Danach sei das FA an die von ihm selbst gesetzte Frist nicht mehr gebunden gewesen.
2. Diese Ausführungen halten rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Einspruchsentscheidung ist rechtswidrig, weil sie vor Ablauf der von dem FA selbst gesetzten Frist erlassen worden ist. Das FG hat dies verkannt. Sein Urteil ist deswegen aufzuheben. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden; die Klage ist begründet. Die im Streitfall unter Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben vorzeitig erlassene (verbösernde) Einspruchsentscheidung ist aufzuheben.
a) Hat das FA im Einspruchsverfahren eine Frist bestimmt, bis zu der es dem Steuerpflichtigen möglich sein soll, bei Vermeidung der zugleich angedrohten Verböserung den Einspruch zurückzunehmen, so kann ein Verstoß gegen Treu und Glauben vorliegen, wenn es gleichwohl vor Ablauf der selbst gesetzten Frist die (verbösernde) Einspruchsentscheidung erlässt.
aa) Der im Steuerrechtsverhältnis, einschließlich des Verfahrensrechts uneingeschränkt zu beachtende Grundsatz von Treu und Glauben gebietet es u.a., auf die schutzwürdigen Belange des jeweils anderen Teils Rücksicht zu nehmen und sich insbesondere nicht zu seinem früheren Verhalten in Widerspruch zu setzen (vgl. nur Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 30.3.2011 XI R 30/09, BFHE 233, 18, BStBl II 2011, 613, m.w.N.). Schutzwürdig ist der andere Teil, wenn er im berechtigten Vertrauen disponiert oder Dispositionen unterlassen hat (vgl. BFH-Urteil vom 9.8.1989 I R 181/85, BFHE 158, 31, BStBl II 1989, 990). Eine vom FA im Verfahren selbst gesetzte Frist muss beachtet werden. Widerspruchsfrei verhält sich die Behörde nur, wenn sie vor ihrer Entscheidung den Ablauf der selbst gesetzten Frist abwartet, denn die Fristbestimmung schließt die Zusage ein, dass vor Ablauf der Frist nicht entschieden wird.
bb) Schutzwürdig ist der Steuerpflichtige, wenn er aus der maßgeblichen Sicht eines objektiven Beteiligten mit einer Entscheidung der Finanzbehörde vor Ablauf der Frist nicht rechnen musste und wenn er sein Verhalten darauf eingestellt hatte. Dazu genügt es, wenn er eine abschließende Äußerung noch nicht abgegeben hat, denn Fristen dürfen ausgeschöpft werden (vgl. BFH-Beschluss vom 8.7.2011 III B 7/10, BFH/NV 2011, 1895). Anders wäre die Rechtslage, wenn der Steuerpflichtige durch sein Verhalten eindeutig zu erkennen gegeben hätte, dass er entweder von der ihm eingeräumten Gelegenheit zur Äußerung keinen Gebrauch machen werde oder hiervon bereits abschließend Gebrauch gemacht habe. Ob dies der Fall ist, bestimmt sich nach Maßgabe der Grundsätze über die Auslegung von Willenserklärungen aus dem objektiven Empfängerhorizont.
b) Nach diesen Grundsätzen war das FA im Streitfall nicht berechtigt, von der selbst gesetzten Frist abzuweichen und schon vor Fristablauf die verbösernde Einspruchsentscheidung zu erlassen.
aa) Anders als das FG meint, hatte der Kläger nicht eindeutig zu erkennen gegeben, von der Gelegenheit zur Äußerung und Begründung des Einspruchs keinen Gebrauch mehr machen zu wollen. Zwar hat der Kläger innerhalb der Frist eine Erklärung abgegeben, aus der sich ergeben könnte, dass er von weiteren Äußerungen innerhalb der Frist absehen werde. Diese Schlussfolgerung, die das FG gezogen hat, ist jedoch mit dem eindeutigen Inhalt jenes Schreibens nicht in Übereinstimmung zu bringen und kann den Senat deshalb nicht binden (§ 118 Abs. 2 FGO). Die Auslegung des Schreibens ergibt vielmehr, dass sich der Kläger eine abschließende Begründung des Einspruchs im Verfahren vorbehalten hatte.
Dafür spricht vor allem, dass der Kläger angesichts der divergierenden Berechnungen im ursprünglichen Zinsbescheid und in dem Schreiben vom 18.3.2009 ausdrücklich, wenn auch "hilfsweise" um Erläuterung der Berechnung gebeten und darauf hingewiesen hatte, dass ihm vorher "naturgemäß" die Begründung des Einspruchs nicht möglich sei. Diese Formulierungen können nur so verstanden werden, dass sich der Kläger für den Fall nachträglicher Erläuterung der Berechnungsgrundlagen eine abschließende Stellungnahme vorbehalten wollte. Angesichts dessen kann weder aus der einleitenden Formel ("unseren o.g. Einspruch begründen wir wie folgt") noch aus dem einzigen Begründungssatz oder den abschließenden Anträgen auf Erlass der Zinsen und AdV mit der erforderlichen Sicherheit geschlossen werden, dass sich der Kläger innerhalb der Frist zum Verfahren nicht mehr äußern werde.
bb) Entsprechendes gilt für die Frage, ob der Kläger von der Möglichkeit, den Einspruch innerhalb der Frist zurückzunehmen, noch Gebrauch machen wollte. Da dem Kläger wegen fehlender Informationen eine abschließende Begründung des Einspruchs noch nicht möglich erschien, kann sein Schreiben (mit der Bitte um Erläuterung der Berechnungsweise) nur so verstanden werden, dass er sich im Hinblick auf die erbetenen Informationen auch die Rücknahme des Einspruchs noch offenhalten wollte.
c) Das FG ist von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen. Sein Urteil wird deshalb aufgehoben. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden. Der im vorzeitigen Erlass der Einspruchsentscheidung liegende Verstoß gegen Treu und Glauben hat zur Folge, dass die Einspruchsentscheidung aufgehoben werden muss, weil der Verfahrensmangel sonst ohne rechtliche Sanktion wäre.
aa) Dem steht § 127 AO nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift kann die Aufhebung eines Verwaltungsaktes nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren zustande gekommen ist, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können. Zwar ist die Einspruchsentscheidung ein Verwaltungsakt und findet § 127 AO auch im Einspruchsverfahren grundsätzlich Anwendung (§ 365 Abs. 1 AO). Die Wertung des § 127 AO, die einen Vorrang der materiellen Richtigkeit vor dem Verfahrensrecht postuliert, schlägt aber nicht durch in Fällen der Verböserung von Steuerbescheiden im Einspruchsverfahren. Der mit dem Einspruch angefochtene Verwaltungsakt darf zum Nachteil des Einspruchsführers nur geändert werden, wenn dieser auf die Möglichkeit einer verbösernden Entscheidung unter Angabe von Gründen hingewiesen und ihm Gelegenheit gegeben worden ist, sich hierzu zu äußern (§ 367 Abs. 2 Satz 2 AO). Die Pflicht zur vorherigen Anhörung bringt es mit sich, dass die Verböserung durch die jederzeit mögliche Einspruchsrücknahme (§ 362 AO) vermieden werden kann. Durch die einseitige Erklärung, den Einspruch zurückzunehmen, kann der Steuerpflichtige das Rechtsbehelfsverfahren sofort beenden mit der Folge, dass eine Einspruchsentscheidung nicht mehr ergehen darf. Dadurch wird unter Umständen eine materiell unrichtige Entscheidung bestandskräftig. Das Gesetz räumt damit der Gewährung des rechtlichen Gehörs und dem Verfahrensrecht in dieser Situation ausnahmsweise den Vorrang ein vor der materiellen Richtigkeit der Entscheidung. Unterbleibt die in § 367 Abs. 2 Satz 2 AO vorgesehene Anhörung, führt dies zur isolierten Aufhebung der Einspruchsentscheidung wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels (vgl. nur BFH-Beschluss vom 3.7.2012 IX B 37/12, BFH/NV 2012, 1630).
bb) Diese Wertung ist auf den vorliegenden Fall übertragbar. Der Verstoß des FA gegen den rechtsstaatlichen Grundsatz von Treu und Glauben führt bei beabsichtigter Verböserung im Einspruchsverfahren abweichend von dem Grundsatz des § 127 AO als wesentlicher Verfahrensmangel ebenfalls zur isolierten Aufhebung der Einspruchsentscheidung. Andernfalls bliebe der Verfahrensverstoß sanktionslos; das wäre mit der Wertung des § 367 Abs. 2 Satz 2 AO nicht vereinbar.
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