BFH: Entzug einer zum Versand angemeldeten, aber nicht versandten Ware aus zollamtlicher Überwachung?
- Sind die einschlägigen Vorschriften der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften, insbesondere deren Artikel 50, dahin auszulegen, dass eine von der Zollbehörde einer Person zur vorübergehenden Verwahrung an einem zugelassenen Ort überlassene Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen wird, wenn sie zu einem externen Versandverfahren zwar angemeldet wird, jedoch die ausgestellten Versandpapiere auf dem geplanten Transport tatsächlich nicht begleitet und der Bestimmungszollstelle nicht gestellt wird?
- Ist in einem solchen Fall die Person, die als zugelassener Versender die Waren in das Versandverfahren übergeführt hat, Zollschuldner gemäß Art. 203 Abs. 3 Anstrich 1 ZK oder gemäß Art. 203 Abs. 3 Anstrich 4 ZK?
BFH-Beschluss vom 11.12.2012, VII R 3/12 = SIS 13 04 63 (veröffentlicht am 13.2.2013)
ZK Art. 50, 91, 203, 236 Abs. 1
Vorinstanz: Hessisches FG vom 29.11.2011, 7 K 1881/10 = SIS 12 17 69
Folgeinstanz: EuGH 12.6.2014, Rs C-75/13 = SIS 14 21 56
I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) übernahm im Januar 2010 als zugelassener Versender von einer Speditionsfirma den Auftrag, am Flughafen Frankfurt/Main eingetroffene und von einer dritten Firma (im Folgenden: Lagerhalter) übernommene, gestellte und summarisch angemeldete Waren im externen gemeinschaftlichen Versandverfahren zu einem Empfänger in X zu befördern. Der Lagerhalter verfügte am Flughafen über ein Verwahrungslager, in das er die Ware - zwölf Fahrradträger - aufnahm. Nachdem der Klägerin dies angezeigt worden war, meldete diese am 17.1.2010 eine Sendung mit der Ware und vier weiteren Warenpositionen zum Versand an. Mit der Durchführung des Transports wurde die Spedition beauftragt. Diese sollte die Sendung am folgenden Tag von dem Verwahrungslager abholen und einem Empfänger in X liefern. Dieser stellte jedoch fest, dass die Fahrradträger in der Sendung nicht enthalten waren; sie waren in dem Verwahrungslager zurückgeblieben. Nachdem der Klägerin von dem Beklagten und Revisionsbeklagten (Hauptzollamt - HZA -) angezeigt worden war, die Fahrradträger seien nicht der Bestimmungszollstelle gestellt worden, veranlasste die Klägerin, dass die Fahrradträger mit einer neuen Sendung am 1.2.2010 im Versandverfahren zu dem Empfänger transportiert wurden. Dieser überführte sie in den freien Verkehr und wurde deswegen auf Eingangsabgaben von rund 2.000 € in Anspruch genommen (Zoll- und Einfuhrumsatzsteuer).
Auf den gleichen Abgabenbetrag wurde die Klägerin vom HZA in Anspruch genommen, weil sie die Ware durch Nichtgestellung bei der Bestimmungsstelle der zollamtlichen Überwachung entzogen habe.
Die Klägerin begehrt die Erstattung der Abgaben gemäß Art. 236 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (im Folgenden: ZK). Sie hat deswegen Klage erhoben. Das Finanzgericht (FG) hat die Klage abgewiesen; die Abgaben könnten nicht erstattet werden, weil sie gesetzlich geschuldet seien. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Klägerin. Sie meint, die vorübergehende Verwahrung habe erst mit der physischen Übergabe der Fahrradträger geendet. Ein Versandverfahren habe unbeschadet der von der Klägerin abgegebenen Anmeldung erst mit der tatsächlichen Abholung der Waren bei dem Lagerhalter am 1.2.2010 begonnen. Im Übrigen seien die Waren durch Unterlassen der Übergabe an den Fahrer der Spedition aus der vorübergehenden Verwahrung entzogen worden. Denn diese unterlassene Übergabe bei gleichzeitiger Anmeldung zum Versandverfahren habe dazu geführt, dass die Zollbehörde am Zugang zu der unter zollamtlicher Überwachung stehenden Ware gehindert gewesen sei.
II. Der beschließende Senat ersucht um eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs gemäß Art. 267 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union, weil er die richtige Auslegung der im Streitfall einschlägigen unionsrechtlichen Vorschriften unter Berücksichtigung der bereits vorliegenden Rechtsprechung des Gerichtshofs, insbesondere zu Art. 203 Abs. 1 ZK, nicht für zweifelsfrei hält.
1. Für die Entscheidung einschlägig sind folgende Vorschriften:
a) Betreffend die Zollschuld:
Artikel 203 ZK
(1) Eine Einfuhrzollschuld entsteht, wenn eine einfuhrabgabenpflichtige Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen wird.
...
(3) Zollschuldner sind:...
- die Person, welche die Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen hat;
- gegebenenfalls die Person, welche die Verpflichtungen einzuhalten hatte, die sich ... aus der Inanspruchnahme des betreffenden Zollverfahrens ergeben.
Artikel 236 ZK
(1) Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben werden insoweit erstattet, als nachgewiesen wird, dass der Betrag im Zeitpunkt der Zahlung nicht gesetzlich geschuldet war ...
b) Betreffend die vorübergehende Verwahrung und den Versand:
Artikel 48 ZK
Die gestellten Nichtgemeinschaftswaren müssen eine der für Nichtgemeinschaftswaren zulässigen zollrechtlichen Bestimmungen erhalten.
Artikel 50 ZK
Bis zum Erhalt einer zollrechtlichen Bestimmung haben die gestellten Waren die Rechtsstellung von Waren in vorübergehender Verwahrung. ...
Artikel 51 ZK
(1) Die vorübergehend verwahrten Waren dürfen ausschließlich an von den Zollbehörden zugelassenen Orten und unter den von diesen Behörden festgelegten Bedingungen gelagert werden.
...
Artikel 59 ZK
(1) Alle Waren, die in ein Zollverfahren übergeführt werden sollen, sind zu dem betreffenden Verfahren anzumelden.
...
Artikel 84 ZK
(1) Im Sinne der Artikel 85 bis 90
a) bezeichnet der Ausdruck "Nichterhebungsverfahren" im Falle
von Nichtgemeinschaftswaren nachstehende Zollverfahren:...
- das Versandverfahren
Artikel 91 ZK
(1) Im externen Versandverfahren können folgende Waren zwischen zwei innerhalb des Zollgebiets der Gemeinschaft gelegenen Orten befördert werden:
a) Nichtgemeinschaftswaren, ohne dass diese Waren Einfuhrabgaben, anderen Abgaben oder handelspolitischen Maßnahmen unterliegen;
...
2. Auf der Grundlage dieser Vorschriften hat der beschließende Senat folgende Überlegungen angestellt:
Einfuhrabgaben sind nach Art. 236 Abs. 1 Unterabs. 1 ZK zu erstatten, wenn nachgewiesen wird, dass der Abgabenbetrag im Zeitpunkt der Zahlung nicht gesetzlich geschuldet war. Einfuhrabgaben entstehen nach Art. 203 Abs. 1 ZK und sie werden dann von dem Zollschuldner gesetzlich geschuldet, wenn eine einfuhrabgabenpflichtige Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen wird.
Eine solche Entziehung der strittigen einfuhrabgabenpflichtigen Waren aus zollamtlicher Überwachung könnte im Streitfall darin gesehen werden, dass die von der Klägerin zu einem Versandverfahren angemeldeten und ihr zu diesem Verfahren von der Zollbehörde überlassenen Fahrradträger nicht auf das vorgesehene Beförderungsmittel verladen und der Bestimmungszollstelle gestellt worden, sondern in dem für eine vorübergehende Verwahrung zugelassenen Lager verblieben sind. Bei einer etwaigen Kontrolle des für den Versand benutzen LKW wären sie mithin dort nicht vorgefunden worden.
Nähme man aufgrund dieser Gefahr an, eine Zollschuld sei durch das Unterbleiben der Verladung der zum Versand angemeldeten Waren entstanden, würde indes die Entstehung einer Einfuhrabgabenschuld nicht daran geknüpft, dass eine (Nichtgemeinschafts-)Ware, deren Verbleib während einer Beförderung innerhalb des Zollgebiets gegebenenfalls zollamtlich jederzeit muss festgestellt werden können, befördert worden ist, ohne dass dies der Zollbehörde angezeigt und von ihr durch Annahme einer Versandanmeldung gestattet worden ist und ohne dass dementsprechend eine zollbehördliche Kontrolle des Transports gewährleistet war. Die Entstehung der Zollschuld wäre vielmehr daran geknüpft, dass eine solche Beförderung entgegen der abgegebenen und angenommenen Anmeldung nicht durchgeführt worden ist, die Ware also in einer Weise behandelt worden ist, die eine zollamtliche Überwachung nach den Regularien eines externen gemeinschaftlichen Versandverfahrens gar nicht erforderte. Die Entstehung einer Einfuhrabgabenschuld würde mit anderen Worten nicht angenommen, weil eine Ware ohne die erforderliche zollamtliche Überwachung i.S. des Art. 91 Abs. 1 ZK zwischen zwei Orten innerhalb des Zollgebiets befördert worden ist, sondern weil durch die Abgabe einer Versandanmeldung der Anschein einer solchen Beförderung erweckt worden ist, welcher bei einer Kontrolle der Sendung die Zollbehörde zu der Annahme hätte verleiten können, die Ware sei der für die Beförderung zwischen zwei Orten innerhalb des Zollgebiets vorgeschriebenen Überwachung entzogen worden.
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs umfasst der Begriff der Entziehung aus der zollamtlichen Überwachung jede Handlung oder Unterlassung, die dazu führt, dass die Zollbehörde auch nur zeitweise am Zugang zu einer unter zollamtlicher Überwachung stehenden Ware und der Durchführung der in Art. 37 Abs. 1 ZK vorgesehenen Prüfungen gehindert wird (statt aller Urteil vom 12.2.2004 C-337/01, Slg. 2004, I-1791). Deshalb entsteht eine Zollschuld insbesondere dann, wenn - wie es in dem vorgenannten Verfahren der Fall war - eine Ware aus einem Zolllager entnommen und zu einer Ausgangszollstelle verbracht wird, ohne dafür zu einem Versandverfahren angemeldet worden zu sein, oder eine zum Versandverfahren angemeldete Ware, auch nur vorübergehend, transportiert wird, ohne dabei von den Versandpapieren begleitet zu werden, und der Versandschein folglich auf Verlangen der Zollstelle nicht vorgelegt werden könnte, wenn diese die Vorlage verlangen würde (Urteil des Gerichtshofs vom 29.4.2004 C-222/01, Slg. 2004, I-4683).
In den diesen Entscheidungen zugrunde liegenden Fällen hatte indes das vom Gerichtshof als Entziehen aus zollamtlicher Überwachung bewertete Verhalten die Folge, dass sich abgabenpflichtige Waren zeitweise nicht in der in den einschlägigen Vorschriften geregelten Weise unter zollamtlicher Überwachung befanden. So liegt es im Streitfall nicht; denn die Ware der Klägerin hat sich nach wie vor unter zollamtlicher Überwachung in dem Verwahrungslager befunden. Selbst wenn das nicht der Fall gewesen sein sollte, weil sie in der Lagerbuchhaltung ausgetragen worden sein mag, oder weil das Fortbestehen zollamtlicher Überwachung allein deshalb zu verneinen sein sollte, weil die Ware offenbar vorübergehend im Lager nicht aufgefunden (und deshalb nicht verladen) werden konnte, könnte dies eine Zollschuldnerschaft des Hauptverpflichteten, der Klägerin, nicht begründen, weil in einem solchen Fall nicht dieser, sondern allenfalls der Lagerhalter die Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen hätte. Das schlösse die Entstehung einer Zollschuld zulasten des Hauptverpflichteten auch deshalb aus, weil eine Zollschuld für dieselbe Ware nicht zweimal entstehen kann (Urteil des beschließenden Senats vom 5.10.2004 VII R 61/03, BFHE 207, 570).
Der Streitfall könnte deshalb eher als mit vorgenannten Entscheidungen des Gerichtshofs mit dem Fall verglichen werden, dass versehentlich eine überhaupt nicht existente Ware (oder z.B. eine zu große Menge einer an sich vorhandenen Ware) zum Versand angemeldet worden ist oder dass für eine an sich vorhandene und auch tatsächlich versandte Ware versehentlich zwei Versandanmeldungen abgegeben worden sind. Ein solcher Fall lag dem Urteil des Gerichtshofs vom 15.7.2010 C-234/09 (Slg. 2010, I-7333) zugrunde, in dem das Entstehen einer Zollschuld aufgrund der Abgabe einer gewissermaßen ins Leere gehenden (zweiten) Versandanmeldung vom Gerichtshof verneint worden ist. Der Gerichtshof hat dazu überzeugend ausgeführt, ein solcher Fehler sei seiner Art nach nicht geeignet, die mit Art. 204 ZK verfolgten Ziele zu beeinträchtigen und damit die Entstehung einer Zollschuld zu rechtfertigen. Was nämlich erstens das Ziel angehe, die Gefahr zu vermeiden, dass Nichtgemeinschaftswaren unverzollt in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangen, bestehe kein Risiko, dass die von der zweiten Anmeldung bezeichnete Ware unverzollt in den Wirtschaftskreislauf gelangen und so zu unlauterem Wettbewerb und zur Gefahr finanzieller Verluste führen könne. Zweitens könne das Ziel, die sorgfältige Anwendung der Vorschriften des Zollverfahrens zu gewährleisten, nicht erreicht werden, wenn ein externes Versandverfahren keine vorhandene Ware betrifft; denn es sei dann nicht möglich, ein solches Verfahren ordnungsgemäß durchzuführen, und auch die dem Hauptverpflichteten obliegende Verpflichtung, die Waren der Bestimmungszollstelle zu gestellen, könne bei einem solchen aufgrund eines Fehlers in Gang gesetzten Versandverfahrens nicht erfüllt werden.
Auch im Streitfall ist das Versandverfahren aufgrund eines ähnlichen Fehlers in Gang gesetzt bzw. die Versandanmeldung nicht rechtzeitig korrigiert worden und es hat keine Gefahr bestanden, dass die (im Verwahrungslager verbliebene) Ware aufgrund der fehlerhaften Durchführung des Versandverfahrens unverzollt in den Wirtschaftskreislauf gelangen könnte.
3. Der beschließende Senat ist hinsichtlich der Richtigkeit dieser seiner Überlegungen jedoch insbesondere deshalb nicht frei von jedem Zweifel, weil Art. 50 ZK möglicherweise dahin verstanden werden kann, dass die Rechtsstellung von Waren als in vorübergehender Verwahrung befindlich mit dem Erhalt einer zollrechtlichen Bestimmung (z.B. einer Anmeldung derselben zum Versandverfahren) auch dann endet, wenn die betreffenden Waren i.S. des Art. 51 ZK weiterhin an dem zugelassenen Ort und unter den von der Zollbehörde festgelegten Bedingungen gelagert werden. Wäre jene Vorschrift dahin auszulegen - und nicht dahin zu verstehen, dass die Verwahrung endet, wenn Ware (nicht nur papiermäßig, sondern) tatsächlich einer zollrechtlichen Bestimmung zugeführt wird (hier: einem Transport zwischen zwei inneruniotären Orten) -, so könnte daraus ungeachtet dessen, ob eine Versandanmeldung möglicherweise nur versehentlich abgegeben (bzw. nicht - etwa wegen zeitweiser Unauffindbarkeit der zu versendenden Ware im Verwahrungslager - entsprechend korrigiert) worden ist, vielleicht gefolgert werden, dass es der Hauptverpflichtete ist, welcher die Ware der zollamtlichen Überwachung entzieht, wenn der Versandschein ohne die Ware einen inneruniotären Transport begleitet und der Bestimmungszollstelle vorgelegt wird, ohne dass dabei die Ware gestellt wird.
Der beschließende Senat erbittet daher die Beantwortung der im Leitsatz bezeichneten Auslegungsfragen.
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