BFH: Fortdauernder Insolvenzbeschlag für Steuererstattungsansprüche bei vorbehaltener Nachtragsverteilung
Zugehörigkeit des Anspruchs auf Erstattung von Einkommensteuer zur Insolvenzmasse - Gegenstand des Abrechnungsbescheids - Beteiligung des Insolvenzverwalters nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens am Steuererhebungsverfahren
- Nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens entstandene, aber bereits während seiner Dauer begründete Steuererstattungsansprüche des Insolvenzschuldners unterliegen weiterhin dem Insolvenzbeschlag, falls mit der Aufhebung des Insolvenzverfahrens ihre Nachtragsverteilung vorbehalten worden ist.
- Für solche dem Insolvenzbeschlag weiterhin unterliegenden Ansprüche gelten die insolvenzrechtlichen Aufrechnungsverbote.
BFH-Urteil vom 28.2.2012, VII R 36/11 (veröffentlicht am 2.5.2012)
AO § 218 Abs. 2
InsO § 35 Abs. 1, § 80 Abs. 1, § 96 Abs. 1 Nr. 1, § 203 Abs. 1
Vorinstanz: FG Berlin-Brandenburg vom 16.12.2010, 10 K 15202/09 (EFG 2011 S. 1307 = SIS 11 14 45)
I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) war Insolvenzverwalterin in dem im November 2003 über das Vermögen des M (Schuldner) eröffneten Insolvenzverfahren. Mit Beschluss des Insolvenzgerichts vom 31.7.2006 wurde das Insolvenzverfahren aufgehoben, wobei die Nachtragsverteilung vor und während der Dauer des Insolvenzverfahrens begründeter Ansprüche auf Steuererstattungen vorbehalten blieb.
Aus der Einkommensteuerveranlagung des Schuldners für 2006 ergaben sich die Einkommen- und Kirchensteuer sowie den Solidaritätszuschlag betreffende Erstattungsbeträge, gegen die der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) durch Umbuchungsmitteilung mit gegen den Schuldner bestehenden Insolvenzforderungen aufrechnete. Die Klägerin beantragte hingegen die Zahlung von 7/12 der Erstattungsansprüche für das Jahr 2006 und die Erteilung eines Abrechnungsbescheids. Dies lehnte das FA mit Bescheid vom 15.1.2009 mit der Begründung ab, das Insolvenzgericht habe die Nachtragsverteilung während der Dauer des Insolvenzverfahrens begründeter Steuererstattungsansprüche nicht angeordnet und die Klägerin sei nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens nicht mehr am Steuerfestsetzungs- bzw. Steuererhebungsverfahren beteiligt.
Auf die hiergegen nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage änderte das Finanzgericht (FG) den angefochtenen Bescheid dahin, dass ein Anspruch der Klägerin auf anteilige Erstattung der Einkommensteuer 2006 festgestellt wurde. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2011, 1307 veröffentlicht.
Mit seiner Revision vertritt das FA weiterhin die Auffassung, die Klägerin habe keinen Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis und somit keinen Anspruch auf Erteilung eines Abrechnungsbescheids. Sie habe mit der Aufhebung des Insolvenzverfahrens ihre Rechtsstellung als Verwalterin der Insolvenzmasse verloren. Von der mit der Aufhebung des Insolvenzverfahrens auf den ehemaligen Insolvenzschuldner übergegangenen Befugnis, sein Vermögen zu verwalten und über es zu verfügen, seien nur solche Vermögensgegenstände ausgenommen, für die das Insolvenzgericht eine Nachtragsverteilung anordne. Eine die Steuererstattungsansprüche 2006 des Schuldners betreffende Nachtragsverteilung sei jedoch nicht angeordnet worden. Der in dem Beschluss des Insolvenzgerichts vom 31.7.2006 nur vorbehaltenen Nachtragsverteilung komme nicht die Wirkung ihrer Anordnung zu.
II. Die Revision des FA ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Das angefochtene Urteil entspricht Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 FGO).
1. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Erteilung eines die Steuererstattungsansprüche 2006 des Schuldners betreffenden Abrechnungsbescheids.
Nach § 218 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) wird über Streitigkeiten, die die Verwirklichung der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis betreffen, durch Verwaltungsakt (sog. Abrechnungsbescheid) entschieden; dies gilt auch, wenn die Streitigkeit einen Erstattungsanspruch betrifft, der nach § 37 Abs. 1 AO ebenfalls ein Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis ist. Gegenstand des Abrechnungsbescheids ist die Frage des Bestehens oder Nichtbestehens reiner Zahlungsansprüche; er entscheidet, inwieweit bestimmte Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis noch bestehen oder durch einen der in § 47 AO aufgeführten Erlöschenstatbestände ganz oder teilweise erloschen sind (vgl. Klein/Rüsken, AO, 10. Aufl., § 218 Rz 10a, 13, m.w.N.).
Besteht Streit über die Verwirklichung bestimmter Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, besteht auch ein Anspruch auf Erteilung eines Abrechnungsbescheids, den die zuständige Finanzbehörde von Amts wegen oder auf Antrag desjenigen zu erlassen hat, der vom FA auf Zahlung in Anspruch genommen wird oder vom FA eine Erstattung begehrt (Alber in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, § 218 AO Rz 112 f.; Klein/Rüsken, a.a.O., § 218 Rz 11). Im Streitfall handelt es sich bei den Steuererstattungsansprüchen 2006 des Schuldners um Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, über deren Verwirklichung Uneinigkeit zwischen der Klägerin und dem FA besteht. Da die Klägerin als ehemalige Insolvenzverwalterin die Zugehörigkeit dieser Ansprüche zur Insolvenzmasse im Wege der Nachtragsverteilung und die Zahlung des entsprechenden Betrags an die Insolvenzmasse beansprucht, weil sie - anders als das FA - die Ansprüche nicht als im Wege der Aufrechnung erloschen ansieht, liegen die Voraussetzungen für den Erlass eines diese Ansprüche betreffenden Abrechnungsbescheids vor. Anders als das FA meint, ist die Klägerin auch nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens weiterhin am Steuererhebungsverfahren beteiligt, soweit die Zugehörigkeit nachträglich entstandener Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis zur Insolvenzmasse im Streit ist.
2. Das FG hat auch zu Recht entschieden, dass das Recht des Schuldners, über die Steuererstattungsansprüche 2006 zu verfügen, nicht mit der Aufhebung des Insolvenzverfahrens auf diesen übergegangen ist, sondern die Insolvenzbeschlagnahme insoweit fortbesteht.
a) Zur Insolvenzmasse, über die der Insolvenzschuldner gemäß § 80 der Insolvenzordnung (InsO) kein Verwaltungs- und Verfügungsrecht hat, gehört nach § 35 Abs. 1 InsO das gesamte Vermögen, das dem Schuldner zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens gehört und das er während des Verfahrens erlangt. Dabei kommt es nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats sowie des Bundesgerichtshofs (BGH) hinsichtlich der Zugehörigkeit von Ansprüchen zur Insolvenzmasse nicht auf den Zeitpunkt der Vollrechtsentstehung an, sondern auf den Zeitpunkt, in dem nach insolvenzrechtlichen Grundsätzen der Rechtsgrund für den Anspruch gelegt worden ist. Ein Anspruch auf Erstattung von Einkommensteuerzahlungen gehört daher zur Insolvenzmasse, wenn der die Erstattungsforderung begründende Sachverhalt vor oder während des Insolvenzverfahrens verwirklicht worden ist (Senatsurteil vom 6.2.1996 VII R 116/94, BFHE 179, 547, BStBl II 1996, 557; Senatsbeschlüsse vom 7.6.2006 VII B 329/05, BFHE 212, 436, BStBl II 2006, 641, und vom 4.9.2008 VII B 239/07, BFH/NV 2009, 6; BGH-Beschluss vom 12.1.2006 IX ZB 239/04, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 2006, 1127). Der Rechtsgrund für eine Erstattung von Einkommensteuer wird bereits mit der Leistung der entsprechenden Vorauszahlungen gelegt, denn bereits in diesem Zeitpunkt erlangt der Steuerpflichtige einen Anspruch auf Erstattung der Vorauszahlungen unter der aufschiebenden Bedingung, dass am Jahresende die geschuldete Einkommensteuer geringer ist als die Summe der Vorauszahlungen (Senatsurteil in BFHE 179, 547, BStBl II 1996, 557; Senatsbeschluss in BFHE 212, 436, BStBl II 2006, 641).
Nach diesem insolvenzrechtlichen Grundsatz wurde der Rechtsgrund für die Erstattungsansprüche 2006 des Schuldners bereits während des Insolvenzverfahrens gelegt, soweit die Erstattungsansprüche auf vor Aufhebung des Insolvenzverfahrens geleisteten Vorauszahlungen - hier im Wege des Steuerabzugs vom Lohn - beruhen.
b) Werden erst nach der Aufhebung des Insolvenzverfahrens Ansprüche des Schuldners ermittelt, die vor oder während des Insolvenzverfahrens in insolvenzrechtlicher Hinsicht "begründet" wurden und somit zur Insolvenzmasse gehörten, können sie Gegenstand einer Nachtragsverteilung gemäß § 203 Abs. 1 Nr. 3 InsO sein. Wird die Nachtragsverteilung angeordnet, so besteht die Insolvenzbeschlagnahme i.S. des § 80 Abs. 1 InsO fort mit der Folge, dass insoweit die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis weiterhin beim (früheren) Insolvenzverwalter liegt.
Dieselbe Rechtsfolge tritt ein, wenn im Schlusstermin die Nachtragsverteilung bestimmter Vermögensgegenstände vorbehalten wird. Nach allgemeiner im insolvenzrechtlichen Schrifttum vertretener Auffassung kann das Insolvenzgericht die Nachtragsverteilung bestimmter Gegenstände schon im Schlusstermin vorbehalten. In diesem Fall bedarf zwar die nachträgliche Verteilung dieser Gegenstände noch einer weiteren Anordnung des Insolvenzgerichts; gleichwohl besteht hinsichtlich dieser Vermögensgegenstände bereits durch den Vorbehalt ihrer Nachtragsverteilung der Insolvenzbeschlag unverändert fort (MünchKommInsO/Hintzen, 2. Aufl., § 203 Rz 19, 20, 22, 23; Meller-Hannich in Jäger, Insolvenzordnung, § 203 Rz 10, 11; Kießner in Braun, Insolvenzordnung, 4. Aufl., § 203 Rz 9; FK-InsO/Kießner, 6. Aufl., § 203 Rz 4, 14; Hess, Insolvenzrecht, Großkommentar, § 203 InsO Rz 26; Westphal in Nerlich/ Römermann, Insolvenzordnung, § 203 Rz 12; ebenso: BGH-Beschluss vom 26.1.2012 IX ZB 111/10 , Zeitschrift für Wirtschaftsrecht und Insolvenzpraxis - ZIP - 2012, 437; sowie zur Konkursordnung: BGH-Urteil vom 22.2.1973 VI ZR 165/71, NJW 1973, 1198; zum Gesamtvollstreckungsverfahren: BGH-Beschluss vom 17.2.2011, IX ZB 268/08, Zeitschrift für das gesamte Insolvenzrecht 2011, 632, ZIP 2011, 625).
Mit dem vom Insolvenzgericht im Zusammenhang mit der Aufhebung des Insolvenzverfahrens ausgesprochenen Vorbehalt der Nachtragsverteilung bestimmter Vermögensgegenstände der Insolvenzmasse, die zwar bereits bekannt sind, die aber noch nicht verwertet werden können, wird erreicht, dass der Insolvenzschuldner trotz der Verfahrensbeendigung die Verfügungsbefugnis über diese Gegenstände nicht wiedererlangt, wodurch die Befriedigung der Insolvenzgläubiger aus diesen Vermögensgegenständen gesichert wird. Es widerspräche diesem Sinn und Zweck einer vorbehaltenen Nachtragsverteilung, wenn man - wie das FA meint - auch in diesem Fall den Insolvenzbeschlag von der Anordnung der Nachtragsverteilung durch das Insolvenzgericht abhängig machen wollte. Soweit der erkennende Senat mit Beschluss in BFH/NV 2009, 6, auf den das FA sich beruft, ausgeführt hat, nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens trete die erneute Insolvenzbeschlagnahme der Nachtragsverteilung unterliegender Forderungen erst mit dem Beschluss über die Anordnung der Nachtragsverteilung ein, lag diesem Beschluss ein Fall zugrunde, in welchem die Nachtragsverteilung nicht vorbehalten war.
3. Soweit danach die während der Dauer des Insolvenzverfahrens begründeten Steuererstattungsansprüche 2006 des Schuldners weiterhin dem Insolvenzbeschlag unterliegen, gelten hinsichtlich der Frage, ob das FA gegen diese Ansprüche mit Insolvenzforderungen aufrechnen kann, die Aufrechnungsverbote des § 96 InsO. Die vom FA erklärte Aufrechnung gegen die Erstattungsansprüche 2006 ist daher gemäß § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO insoweit unzulässig, als diese Ansprüche während der Dauer des Insolvenzverfahrens begründet worden sind.
Das FG ist bei seiner Entscheidung davon ausgegangen, die Steuererstattungsansprüche 2006 des Schuldners seien in Höhe von 7/12 durch Steuervorauszahlungen während der Dauer des Insolvenzverfahrens begründet worden. An diese Feststellung ist der Senat gemäß § 118 Abs. 2 FGO gebunden, da zulässige und begründete Revisionsgründe insoweit nicht vorgebracht sind. Somit ist - wie das FG zu Recht entschieden hat - der Klägerin ein Abrechnungsbescheid zu erteilen, der noch nicht getilgte Steuererstattungsansprüche 2006 ausweist.
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