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BFH: Verhältnis zwischen § 47 Abs. 2 und § 52d FGO

  1. Ein Steuerberater, der eine Klage nach Inkrafttreten des § 52d Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gemäß § 47 Abs. 2 FGO in Papierform bei dem Finanzamt anbringt, das die angefochtene Entscheidung erlassen hat, würde sich ‑‑selbst wenn § 47 Abs. 2 FGO durch § 52d Satz 2 FGO suspendiert wür­de, was hier nicht zu entscheiden ist‑‑ bis zur Veröffentlichung der ersten Ent­scheidungen, in denen die Möglichkeit einer Klageerhebung nach § 47 Abs. 2 FGO verneint wird, in einem unverschuldeten Rechtsirrtum befinden. Daher ist ihm ‑‑bei Erfüllung der weiteren Voraussetzungen des § 56 FGO‑‑ jedenfalls Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
  2. Auch bei einem fachkundigen Prozessbevollmächtigten begründet ein Irrtum über das einzuhaltende Verfahrensrecht nicht stets ein die Wiedereinsetzung ausschließendes Verschulden. Zwar kann ein Rechtsirrtum im finanzgerichtli­chen Verfahren eine Fristversäumnis meist nicht entschuldigen. Jedoch kommt bei Irrtümern über verfahrensrechtliche Fragen, die im Zeitpunkt der Vornah­me der Verfahrenshandlung weder durch das Gesetz noch durch die (höchst­richterliche) Rechtsprechung geklärt waren, die Gewährung von Wiedereinset­zung in Betracht.

FGO § 47 Abs. 2, § 52a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2, § 52d Satz 2, § 56 Abs. 1, § 136 Abs. 3
StBPPV § 11 Abs. 2 Satz 2
GG Art. 19 Abs. 4

BFH-Urteil vom 17.9.2025, X R 11, 12/24 (veröffentlicht am 20.11.2025)

Vorinstanz: Niedersächsisches FG vom 16.4.2024, 13 K 114, 115/23 = SIS 24 08 98 und SIS 24 08 99

I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute, die für die Streitjahre 2015 bis 2019 zur Einkommensteuer zusammenveranlagt werden. Der Kläger betreibt eine Pizzeria und erzielt daraus Einkünfte aus Gewerbebetrieb. Im An­schluss an eine Außenprüfung ergingen am 12.01.2023 geänderte Steuerbe­scheide mit erheblichen Hinzuschätzungen zu den erklärten Erlösen aus der Pizzeria. Die Einsprüche wurden am 17.05.2023 zurückgewiesen.

Am 20.06.2023 warf der von den Klägern beauftragte Steuerberater (S) die von ihm unterschriebenen Klageschriften persönlich in Papierform in den Brief­kasten des Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt ‑‑FA‑‑) ein. Das FA übersandte die Klagen ‑‑ebenfalls per Post‑‑ am 01.08.2023 an das Finanz­gericht (FG), wo sie am 04.08.2023 eingingen.

In der FG-Akte ist ein auf den 31.07.2023 datiertes Schreiben der heutigen Prozessbevollmächtigten der Kläger an das FG enthalten, das im Anschriften­feld die Angabe "per beA" enthält. Darin nahmen die Prozessbevollmächtigten auf die durch S eingereichten Klagen Bezug und zeigten an, dass sie die Kläger vertreten. Angaben zum Eingangstag und Übermittlungsweg dieses Schreibens enthält die FG-Akte nicht.

In den unter dem 14.08.2023 erstellten Eingangsverfügungen wies der Vorsit­zende des FG-Senats auf Zweifel an der Zulässigkeit der Klagen hin, da sie nicht über das besondere elektronische Steuerberaterpostfach (beSt) des S eingereicht worden seien. Die Geschäftsstelle des FG bearbeitete die Verfü­gungen am 17.08.2023. Den FG-Akten lässt sich nicht entnehmen, an wel­chem Tag und auf welchem Übermittlungsweg die Hinweise an die Kläger ab­gesandt wurden. Die Kläger haben erklärt, sie hätten die Hinweisschreiben am 17.08.2023 erhalten.

Mit Schriftsätzen ihrer Prozessbevollmächtigten, die am 30.08.2023 über das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) übermittelt wurden, vertraten die Kläger die Auffassung, § 52d der Finanzgerichtsordnung (FGO) sei hier nicht anwendbar, weil die Klagen gemäß § 47 Abs. 2 FGO durch Anbringung beim FA erhoben worden seien. Hilfsweise beantragten sie die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und erhoben ausdrücklich erneut Kla­gen. S habe ohne Verschulden gehandelt, da er sich an den Wortlaut des § 47 Abs. 2 FGO gehalten habe. Es habe seinerzeit keine Rechtsprechung gegeben, die diese Möglichkeit ausgeschlossen hätte. Eine mögliche Fristversäumung würde daher ausschließlich auf einer nicht vorhersehbaren Verschärfung der Auslegung verfahrensrechtlicher Vorschriften beruhen. Außerdem habe S am 20.06.2023 noch nicht über ein empfangsbereites und freigeschaltetes beSt verfügt.

Das FG sah die Klagen als unzulässig an (das in Bezug auf die Betriebssteuern des Klägers ergangene Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte ‑‑EFG‑‑ 2024, 1420 veröffentlicht, das in Bezug auf die Einkommensteuer der Kläger ergangene Urteil in DStR Entscheidungsdienst 2025, 55). Die einmonatige Kla­gefrist habe am 22.06.2023 geendet; die Klagen seien aber erst am 04.08.2023 beim FG eingegangen. Zwar habe S die Klageschriften am 20.06.2023 in den Briefkasten des FA eingeworfen, allerdings damit die Klagen nicht im Sinne des § 47 Abs. 2 FGO "angebracht". Denn auch diese Norm be­freie ihn nicht von der Pflicht zur elektronischen Einreichung (§ 52d FGO). Die Behauptung des S, er habe bei Klageerhebung noch kein empfangsbereites und freigeschaltetes beSt gehabt, ändere nichts daran, dass ihm der sichere Übermittlungsweg über das beSt im Sinne des § 52d Satz 2 FGO "zur Verfü­gung" gestanden habe, da die Inbetriebnahme des Systems mit dem Versand der letzten Registrierungsbriefe durch die Bundessteuerberaterkammer im März 2023 abgeschlossen worden sei.

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei nicht zu gewähren. Es fehle bereits an schlüssigen Darlegungen zu der Behauptung, S habe das beSt nicht nutzen können. Soweit die Kläger vortragen, S habe die nunmehrige Auslegung des § 47 Abs. 2 FGO durch das FG nicht vorhersehen können, beseitige dies das Verschulden nicht. Bei einem Irrtum eines Prozessbevollmächtigten über Ver­fahrensfragen komme Wiedereinsetzung im Allgemeinen nicht in Betracht.

Mit ihrer Revision vertreten die Kläger unter Bezugnahme auf den Senatsbe­schluss vom 17.04.2024 ‑ X B 68, 69/23 (BFHE 284, 237, Rz 19 ff.) in erster Linie die Auffassung, die Steuerberaterplattform- und ‑postfachverordnung (StBPPV) sei nicht wirksam geworden. Ferner sind sie der Ansicht, § 52d Satz 2 FGO sei mit Rücksicht auf Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) rechtsschutzgewährend dahingehend auszulegen, dass dem einzelnen Steuer­berater ein sicherer Übermittlungsweg erst dann zur Verfügung stehe, wenn er ein funktionsfähiges beSt habe.

Darüber hinaus werde die Regelung des § 47 Abs. 2 FGO nicht durch § 52d FGO suspendiert. § 52d FGO beziehe sich, was aus dem Verweis auf § 52a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 FGO folge, nur auf eine Einreichung beim Gericht. In den Fällen des § 47 Abs. 2 FGO sei aber das FA der Postadressat. Hilfsweise sei den Klägern Wiedereinsetzung zu gewähren.

Im Verfahren X R 11/24 beantragt der Kläger, im Verfahren X R 12/24 bean­tragen die Kläger,
die angefochtenen Urteile aufzuheben und die Sachen zur anderweitigen Ver­handlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Das FA beantragt,
die Revisionen zurückzuweisen.

Es hält die angefochtenen Urteile für zutreffend.

II. 1. Zu den Streitgegenständen des Verfahrens X R 12/24 gehören nicht nur "Einkommensteuer 2015 ‑ 2019, Zinsen" (so das Rubrum des vorinstanzlichen Urteils), sondern darüber hinaus auch der Solidaritätszuschlag zur Einkom­mensteuer und die Kirchensteuer, jeweils für die Jahre 2015 bis 2019.

Diese weiteren Streitgegenstände sind sowohl im schriftsätzlich während des Klageverfahrens angekündigten Antrag der Kläger als auch in dem im Tatbe­stand des angefochtenen Urteils wiedergegebenen Antrag genannt. Bei dieser Sachlage kann die unvollständige Wiedergabe der Streitgegenstände im Rubrum des vorinstanzlichen Urteils nur auf einer offenbaren Unrichtigkeit (§ 107 FGO) beruhen. Auch im Rubrum der Revisionseinlegungsschrift haben die Kläger neben der Einkommensteuer und den Zinsen auch den Solidaritäts­zuschlag zur Einkommensteuer und die Kirchensteuer als weitere Streitgegen­stände benannt.

Von einer Berichtigung dieser offenbaren Unrichtigkeit sieht der Senat ab, da er die angefochtenen Urteile aus anderen Gründen ohnehin aufhebt (s. nach­folgend unter 2.).

2. Die ‑‑gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 FGO wegen Gleichartigkeit zu gemeinsamer Entscheidung zu verbindenden‑‑ Revisionen sind begründet. Sie führen zur Aufhebung der angefochtenen Urteile und zur Zurückverweisung der Sachen zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO).

Es kommt in den hier zu entscheidenden Verfahren nicht darauf an, ob Steu­erberater unabhängig davon, ob ihnen der für die Erstanmeldung erforderliche Registrierungsbrief bereits zugegangen war, gemäß § 52d Satz 2 i.V.m. Satz 1 FGO seit dem 01.01.2023 verpflichtet waren, das beSt zu nutzen.

Vor allem kann offenbleiben, ob mit Inkrafttreten des § 52d Satz 2 FGO die Anbringung der Klage beim FA nach § 47 Abs. 2 Satz 1 FGO durch einen Steu­erberater ausgeschlossen ist. Denn selbst wenn die Klagefristen in den Streit­fällen versäumt worden sein sollten, wäre den Klägern hierfür jedenfalls Wie­dereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

a) Gemäß § 56 Abs. 1 FGO ist auf Antrag ‑‑nach § 56 Abs. 2 Satz 4 FGO auch ohne Antrag‑‑ Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn je­mand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Der Antrag ist binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen (§ 56 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 FGO). Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sind glaubhaft zu machen (§ 56 Abs. 2 Satz 2 FGO). Innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte Rechtshandlung nachzuholen (§ 56 Abs. 2 Satz 3 FGO).

b) Vorliegend sind die formalen Voraussetzungen für die Gewährung von Wie­dereinsetzung erfüllt. Das Hindernis ‑‑der Rechtsirrtum des S‑‑ ist mit dem Zugang der Hinweisschreiben des FG am 17.08.2023 weggefallen. Innerhalb der damit beginnenden zweiwöchigen Frist haben die Kläger mit den am 30.08.2023 über das beA an das FG übermittelten Schreiben ihrer neuen Pro­zessbevollmächtigten einen Wiedereinsetzungsantrag gestellt, die entspre­chenden Tatsachen vorgetragen und die versäumte Rechtshandlung ‑‑die Kla­geerhebung‑‑ in einer den gesetzlichen Formanforderungen genügenden Weise nachgeholt.

c) S handelte unter den besonderen Umständen des Streitfalls auch ohne Ver­schulden.

aa) Die Gewährung von Wiedereinsetzung wird grundsätzlich durch jeden Grad des Verschuldens, also auch durch einfache Fahrlässigkeit, ausgeschlossen (Senatsbeschluss vom 02.08.2024 ‑ X B 9/24, BFH/NV 2024, 1192, Rz 18, m.w.N.). Ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten steht dem Verschulden des Beteiligten gleich (§ 85 Abs. 2 der Zivilprozessordnung i.V.m. § 155 Satz 1 FGO).

bb) Ein berufsmäßiger Vertreter muss in aller Regel das Verfahrensrecht ken­nen. Ein Rechtsirrtum im finanzgerichtlichen Verfahren kann deshalb eine Fristversäumnis meist nicht entschuldigen.

(1) Auf dieser Grundlage hat die höchstrichterliche Rechtsprechung ein Ver­schulden vor allem dann angenommen, wenn sich die verfahrensrechtliche Lage bereits eindeutig aus dem Gesetz ergibt. Dies gilt beispielsweise dann, wenn ein Rechtsmittel unter Missachtung sowohl der klaren gesetzlichen Rege­lung als auch der eindeutigen Rechtsmittelbelehrung nicht beim hierfür zu­ständigen FG, sondern beim Bundesfinanzhof (BFH) eingelegt wird (BFH-Be­schluss vom 20.08.1982 ‑ VIII R 58/82, BFHE 136, 348, BStBl II 1983, 63, unter 2., m.w.N.), wenn der Prozessbevollmächtigte der Auffassung ist, schon ein Antrag auf Ruhen des Verfahrens genüge den Anforderungen an eine Revi­sionsbegründung (BFH-Beschluss vom 17.03.2010 ‑ III R 56/09, BFH/NV 2010, 1290, Rz 11), der Prozessbevollmächtigte nach Versäumung der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels zwar einen Wiedereinsetzungsantrag stellt, aber der Auffassung ist, in derartigen Fällen bedürfe es keiner fristgerechten Einreichung einer Rechtsmittelbegründung (BFH-Beschluss vom 16.10.2003 ‑ XI B 95/02, BFHE 203, 407, BStBl II 2004, 26, unter II.3.), oder der Prozess­bevollmächtigte eine verfahrensrechtliche Frist (im damaligen Fall die Antrags­frist des § 32d Abs. 2 Nr. 3 Satz 4 des Einkommensteuergesetzes ‑‑EStG‑‑) nicht kennt (BFH-Urteil vom 28.07.2015 ‑ VIII R 50/14, BFHE 250, 413, BStBl II 2015, 894, Rz 27).

(2) Ebenso begründet es ein Verschulden, wenn die Antwort auf eine verfah­rensrechtliche Frage zwar nicht unmittelbar dem Gesetz entnommen werden kann, es dazu aber bereits (höchstrichterliche) Rechtsprechung gibt. So han­delt ein Prozessbevollmächtigter schuldhaft, der verkennt, dass es sich um ei­ne Zolltarifsache ‑‑mit damals noch zulassungsfreier Revision‑‑ handelt, ob­wohl der BFH sich schon zuvor zur Abgrenzung der Zolltarifsachen geäußert hatte (BFH-Beschluss vom 20.02.1990 ‑ VII R 125/89, BFHE 159, 573, BStBl II 1990, 546, unter II.3.b). Gleiches gilt, wenn der Prozessbevollmächtigte über die Reichweite der Änderungsmöglichkeit nach § 35b des Gewerbesteu­ergesetzes irrt, obwohl es zu dieser Frage bereits BFH-Rechtsprechung gab (BFH-Beschluss vom 11.10.1996 ‑ VIII B 56/95, BFH/NV 1997, 457, unter 2.).

cc) Das Verschulden kann jedoch ausnahmsweise fehlen, wenn in Rechtspre­chung und Schrifttum Unklarheit über das einzuschlagende Verfahren besteht (BFH-Beschlüsse vom 20.02.1990 ‑ VII R 125/89, BFHE 159, 573, BStBl II 1990, 546, unter II.3.b, und vom 11.10.1996 ‑ VIII B 56/95, BFH/NV 1997, 457, unter 2.). Jedenfalls gibt es keinen Rechtssatz, wonach im Falle eines anwaltlichen Rechtsirrtums stets von einem Verschulden auszugehen ist (Ver­fassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschluss vom 27.05.2004 ‑ 23/04, 6/04 EA, Neue Juristische Wochenschrift ‑‑NJW‑‑ 2004, 3259, unter B.II.2.b).

(1) So ist trotz eines Rechtsirrtums eines Prozessbevollmächtigten häufig ein Verschulden verneint und Wiedereinsetzung gewährt worden, wenn sich der Irrtum auf eine von der Rechtsprechung bisher nicht geklärte verfahrensrecht­liche Frage bezog. Dies ist beispielsweise für Fälle entschieden worden, in de­nen ein gesellschaftsrechtlicher Zusammenschluss von Berufsträgern vor dem BFH auftrat, obwohl dieser Zusammenschluss dort nach damaligem Rechtsver­ständnis nicht postulationsfähig war, der BFH dies aber erstmals nach Einrei­chung der Revisionsschrift entschieden hatte (zu einer Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungs‑AG BFH-Urteil vom 16.08.1979 ‑ I R 95/76, BFHE 129, 1, BStBl II 1980, 47, unter II.; zu einer Partnerschaftsgesellschaft BFH-Urteil vom 09.06.1999 ‑ I R 6/99, BFHE 189, 1, BStBl II 1999, 666, unter II.3.). Gleiches gilt, wenn ein Prozessbevollmächtigter im Einklang mit der nahezu einhelligen Literaturauffassung davon ausging, dass trotz der Änderung der maßgeblichen Norm weiterhin die Einreichung einer Faxkopie der Prozessvoll­macht statt ihres Originals ausreiche, auch wenn die Rechtsprechung dies in Entscheidungen, die im Zeitpunkt der Vornahme der Prozesshandlung noch nicht veröffentlicht waren, letztlich anders gesehen hat (BFH-Urteil vom 14.03.1996 ‑ IV R 44/95, BFHE 179, 569, BStBl II 1996, 319, unter 3.). Eben­so ist Wiedereinsetzung gewährt worden, wenn ein Prozessbevollmächtigter über den Anwendungsbereich eines erst vor kurzer Zeit geschaffenen Rechts­mittels irrt und die Auffassung der Instanzrechtsprechung hierzu noch unein­heitlich ist (Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschluss vom 27.05.2004 ‑ 23/04, 6/04 EA, NJW 2004, 3259, unter B.II.2.b) oder wenn nach einer kürzlichen Gesetzesänderung eine unklare Rechtslage über das für die Entgegennahme eines Rechtsmittels zuständige Gericht bestand (Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 17.07.2013 ‑ XII ZB 700/12, NJW 2013, 2971, Rz 13 ff.). Auch zum Verschuldensbegriff des § 137 Satz 2 FGO hat der BFH entschieden, dass eine verfahrensrechtliche Handhabung bei einer noch unkla­ren Rechtslage ohne Verschulden erfolge (BFH-Beschluss vom 13.05.2004 ‑ IV B 230/02, BFHE 206, 194, BStBl II 2004, 833, unter 2.e dd).

(2) Eine wesentliche Fallgruppe, in der im Einzelfall trotz eines Rechtsirrtums die Gewährung von Wiedereinsetzung in Betracht kommt, ist ein Irrtum über die Frist selbst oder die Form der Fristwahrung (BFH-Urteil vom 22.05.2006 ‑ VI R 51/04, BFHE 214, 145, BStBl II 2006, 833, unter II.2.a, mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Vor diesem Hintergrund ist auch bei einem in eigener Sache tätigen Rechtsanwalt die Unkenntnis der früheren Antragsfrist nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG als unverschuldet angesehen worden (BFH-Urteil vom 22.05.2006 ‑ VI R 51/04, BFHE 214, 145, BStBl II 2006, 833, unter II.2.b).

dd) Bei der Entscheidung über die Gewährung von Wiedereinsetzung sind maßgebend auch die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) und des Anspruchs auf Ge­währung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) zu beachten.

So hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erst kürzlich in Bezug auf die problematische Einführungsphase des beSt und die zuvor sehr strenge über­wiegende Rechtsprechungslinie der Finanzgerichtsbarkeit, in der entsprechen­de Klagen und Rechtsmittel auch dann als unzulässig angesehen worden wa­ren, wenn der Steuerberater den für die Erstanmeldung am beSt erforderli­chen Registrierungsbrief noch gar nicht erhalten hatte, ausgeführt, dass die Gerichte den Zugang zu den dem Rechtsuchenden eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer Weise erschweren dürfen. Daher dürfen auch die Anfor­derungen an die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei der Auslegung und Anwendung der maßgeblichen Vorschriften nicht überspannt werden (zum Ganzen BVerfG-Beschluss vom 23.06.2025 ‑ 1 BvR 1718/24, Deutsches Steuerrecht ‑‑DStR‑‑ 2025, 1698, Rz 16, m.w.N.; vgl. zur Auslegung des § 47 Abs. 2 FGO im Lichte des Art. 19 Abs. 4 GG auch BFH-Urteil vom 26.04.1995 ‑ I R 22/94, BFHE 177, 237, BStBl II 1995, 601, unter II.4.).

ee) Nach diesen Grundsätzen wäre den Klägern jedenfalls Wiedereinsetzung zu gewähren. Sollte § 47 Abs. 2 FGO durch § 52d Satz 2 FGO verdrängt wer­den, hätte S sich im Zeitpunkt der Anbringung der beiden Klageschriften beim FA in einer unverschuldeten Unkenntnis hierüber befunden.

(1) Die Antwort auf die Rechtsfrage, ob § 47 Abs. 2 FGO oder § 52d Satz 2 FGO vorrangig ist, ergibt sich nicht bereits aus dem Gesetz selbst. Der Wort­laut des § 47 Abs. 2 FGO enthält keinen Hinweis darauf, dass eine Klage nur auf elektronischem Wege beim FA "angebracht" werden könne. Auch die vom FG herangezogene Norm des § 52d Satz 2 FGO verweist auf den sicheren Übermittlungsweg nach § 52a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 FGO. Dies ist der Übermitt­lungsweg zwischen den besonderen elektronischen Anwaltspostfächern nach §§ 31a, 31b der Bundesrechtsanwaltsordnung oder ‑‑hier einschlägig‑‑ einem entsprechenden, auf gesetzlicher Grundlage errichteten elektronischen Post­fach und der elektronischen Poststelle "des Gerichts". Dieser Gesetzeswortlaut mit seiner ausdrücklichen Beschränkung auf gerichtliche Empfänger kann leicht so verstanden werden, dass § 52d Satz 2 FGO nur für Übermittlungen an die elektronische Poststelle des Gerichts gilt, nicht aber für Übermittlungen an das FA, für die es bis heute keine Pflicht zur ausschließlichen Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs gibt.

(2) Es gab im Zeitpunkt der Anbringung der Klagen beim FA zudem keine ver­öffentlichte höchstrichterliche oder instanzgerichtliche Rechtsprechung, der man hätte entnehmen können, dass die ‑‑gerade erst wirksam gewordene‑‑ Vorschrift des § 52d Satz 2 FGO auch in den Fällen des § 47 Abs. 2 FGO zu beachten sein könnte. Die ersten instanzgerichtlichen Entscheidungen sind erst mehrere Monate später getroffen worden (vgl. neben den im vorliegenden Verfahren angegriffenen Urteilen des Niedersächsischen FG vom 16.04.2024 auch die Urteile des FG München vom 29.02.2024 ‑ 13 K 1318/23, EFG 2024, 1695, Revision anhängig unter IX R 7/24, und des FG Berlin-Brandenburg vom 20.03.2024 ‑ 9 K 9108/23, EFG 2024, 1601, Revision anhängig unter VI R 17/24.

(3) Die drei vom FG zitierten Fundstellen aus der Literatur in derjenigen Fas­sung, die bei Erhebung der vorliegend zu beurteilenden Klagen im Juni 2023 veröffentlicht waren (Finster in Ory/Weth, juris PraxisKommentar Elektroni­scher Rechtsverkehr, Bd. 3 Öffentlich-rechtliche Verfahren, 2. Aufl. 2022, § 47 FGO Rz 32; Brandis in Tipke/Kruse, § 52a FGO Rz 3, Stand 169. Lieferung Februar 2022; von Beckerath in Gosch, FGO § 47 Rz 164, Stand 136. Ergänzungslieferung November 2017) sind in Bezug auf die hier zu beur­teilende Problematik jedenfalls bei näherer Betrachtung nicht ergiebig.

Zwar heißt es in diesen Kommentierungen jeweils, § 47 Abs. 2 FGO befreie nicht von der Beachtung der formalen Anforderungen des § 52a FGO. Zur Be­gründung dieser Aussage wird aber nur auf drei instanzgerichtliche Entschei­dungen verwiesen, die zum einen lange vor Inkrafttreten des § 52d Satz 2 FGO ergangen sind und zum anderen Sachverhalte betreffen, die mit dem hier zu beurteilenden Fall nicht vergleichbar sind. Das FG Münster (Urteil vom 26.04.2017 ‑ 7 K 2792/14 E) hat eine Klage als unzulässig angesehen, die von einem nicht vertretenen Steuerpflichtigen auf elektronischem Wege über das Elster-Portal der Finanzverwaltung ohne die in § 52a Abs. 3 FGO geforderte qualifizierte elektronische Signatur erhoben worden war. Ebenso hat das FG Hamburg (Urteil vom 22.01.2019 ‑ 2 K 212/18) eine Klage als unzulässig an­gesehen, die eine Steuerberaterin mit einfacher E‑Mail an das FA übermittelt hatte. Zur Begründung führte es aus, eine einfache E‑Mail erfülle das Unter­schriftserfordernis des § 64 FGO nicht; eine wirksame elektronische Einrei­chung hätte nach § 52a Abs. 3 FGO eine qualifizierte elektronische Signatur erfordert. Auch das FG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 02.05.2019 ‑ 7 K 7019/19) hat eine von einem nicht vertretenen Steuerpflichtigen mit ein­facher E‑Mail an das FA übermittelte Klage aus diesem Grund als unzulässig angesehen.

Damit sind alle drei Entscheidungen, auf die sich die vom FG zitierten Kom­mentarstellen beziehen, zu Klagen ergangen, die beim FA zwar elektronisch eingereicht wurden, aber nicht mit einer qualifizierten elektronischen Signatur gemäß § 52a Abs. 3 FGO versehen waren. Sie genügten damit den Anforde­rungen an diese tatsächlich gewählte Übermittlungsform nicht. Im Streitfall geht es hingegen um Klagen, die beim FA in Papierform eingereicht worden sind, mithin um die Frage, ob diese Übermittlungsform überhaupt gewählt werden durfte. Mit einer solchen Fallgestaltung befassen sich weder die drei zi­tieren FG-Urteile noch die auf diese Urteile verweisenden Kommentierungen. Im Übrigen wäre im Streitfall nicht § 52a Abs. 3 FGO einschlägig, sondern al­lenfalls § 52a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 FGO mit seiner Beschränkung auf Übermitt­lungen an die elektronische Poststelle "des Gerichts". Hierauf gehen die vom FG zitierten Kommentierungen nicht ein.

Demgegenüber heißt es in einer anderen Kommentierung, die zum damaligen Zeitpunkt vorgelegen hat, es genüge für die Wahrung der Klagefrist nach § 47 Abs. 2 FGO, dass die Klage bei der Erlassbehörde "auf welche Weise auch im­mer" ankomme (so Gräber/Teller, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl. 2019, § 47 Rz 22).

Die Finanzverwaltung hat die Rechtsfrage, ob § 52d FGO in den Fällen des § 47 Abs. 2 FGO zu beachten ist, auch in Verfügungen, die erst nach dem hier maßgeblichen Zeitpunkt veröffentlicht worden sind, nicht ausdrücklich beant­wortet (vgl. Verfügung der Oberfinanzdirektion Karlsruhe vom 01.11.2024, DStR 2025, 412).

(4) Hinzu kommt, dass das beSt gemäß § 11 Abs. 2 Satz 2 StBPPV nicht für die Kommunikation mit der Finanzverwaltung verwendet werden darf, soweit diese ein anderes sicheres elektronisches Verfahren für die Übermittlung von Nachrichten und Dokumenten zur Verfügung stellt (vgl. auch § 87a Abs. 1 Satz 2 der Abgabenordnung in der ‑‑im Streitfall allerdings noch nicht an­wendbaren‑‑ Fassung des Jahressteuergesetzes 2024 vom 02.12.2024, BGBl I 2024 Nr. 387, sowie Schmidt, Der Betrieb 2025, 1108). Auch diese Regel konnte so verstanden werden, dass S die Klage auf elektronischem Wege gar nicht in wirksamer Weise beim FA hätte anbringen können, da § 11 Abs. 2 Satz 2 StBPPV dies für das beSt ausdrücklich ausschließt und das von der Finanzver­waltung angebotene Elster-Verfahren ‑‑jedenfalls nach der veröffentlichten Instanzrechtsprechung (vgl. das vorstehend bereits zitierte Urteil des FG Münster vom 26.04.2017 ‑ 7 K 2792/14 E)‑‑ den Anforderungen des § 52a Abs. 3 FGO nicht genügt. Die Kommunikation mit der Finanzverwaltung in Papierform war im maßgebenden Zeitpunkt für Steuerberater hingegen zu­lässig.

(5) Dem S musste sich schließlich auch nicht der Gedanke aufdrängen, der Normzweck des § 52d Satz 2 FGO ‑‑die Förderung des elektronischen Rechts­verkehrs‑‑ könne nur dann verwirklicht werden, wenn in den Fällen des § 47 Abs. 2 FGO ebenfalls stets eine elektronische Übermittlung gefordert wird. Denn unzweifelhaft ermöglicht § 47 Abs. 2 FGO auch weiterhin eine Klageer­hebung in der Form, dass die Klage innerhalb der Klagefrist beim FA zu Proto­koll gegeben wird. Damit nimmt es der Gesetzgeber aber hin und lässt klar er­kennen, dass der Normzweck des § 52d Satz 2 FGO in den Fällen des § 47 Abs. 2 FGO ohnehin nicht in reiner Form verwirklicht werden kann. Ein aus­schließlicher elektronischer Rechtsverkehr bei den Finanzgerichten konnte auf der Grundlage des im hier maßgebenden Zeitpunkt geltenden Rechts schon deshalb nicht erreicht werden, weil zum einen noch nicht alle berufsmäßigen Vertreter, darunter etwa Wirtschaftsprüfer, Lohnsteuerhilfevereine und land­wirtschaftliche Buchstellen, in die Pflicht zur Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs einbezogen waren und zum anderen nicht vertretene Kläger weiterhin unbeschränkt die klassischen Wege der Kommunikation mit dem Ge­richt nutzen können.

3. Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2, § 121 Satz 1 FGO).

4. Die Übertragung der Kostenentscheidungen auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.

Zwar fallen Kosten, die durch einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vori­gen Stand entstehen, stets dem Antragsteller zur Last (§ 136 Abs. 3 FGO). Der Senat kann gleichwohl offenlassen, ob die Klage bereits form- und fristge­recht eingereicht wurde oder "jedenfalls" Wiedereinsetzung zu gewähren ist. Denn diese Vorschrift wirkt sich im Streitfall nicht aus. Weder im Gerichtskos­tengesetz noch im Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) sind besondere Ge­bührentatbestände für das Verfahren über die Wiedereinsetzung vorgesehen (vgl. insbesondere § 15 Abs. 1 RVG). Zusätzliche Kosten für die Wiedereinset­zung, die beispielsweise bei einer Beweisaufnahme anfallen können, die aus­schließlich für die Entscheidung über die Wiedereinsetzung erheblich ist, sind vorliegend nicht entstanden.

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