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BFH: Freibetrag für das Kind eines zivilrechtlich als verstorben geltenden Elternteils

  1. Der zivilrechtliche Verzicht eines Kindes gegenüber seinen Eltern auf den gesetzlichen Erbteil bewirkt nicht, dass seinem Kind ‑‑dem Enkel des Erblas­sers‑‑ der Freibetrag zu gewähren ist, der im Falle des Versterbens des Kindes zu gewähren ist. Das Erbschaftsteuerrecht folgt insoweit nicht der Fiktion des Zivilrechts.
  2. Dies ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

BGB § 1953, § 2344 Abs. 1, § 2346 Abs. 1 Satz 1 und 2
ErbStG § 15 Abs. 1, § 16 Abs. 1 Nr. 2 und 3
GG Art. 3 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 Satz 1 Alternative 2

BFH-Urteil vom 31.7.2024, II R 13/22 (veröffentlicht am 14.11.2024)

Vorinstanz: Niedersächsisches FG vom 28.2.2022, 3 K 176/21 = SIS 22 11 31

I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) wurde von seinem am xx.xx.2019 verstorbenen Großvater (Erblasser) testamentarisch als Erbe zu einem Viertel eingesetzt. Zuvor hatte der Vater des Klägers mit notariell beurkundetem Ver­trag vom 14.01.2013 gegenüber dem Erblasser auf sein gesetzliches Erbrecht einschließlich seines Pflichtteilsrechts verzichtet. Die Erstreckung des Erbver­zichts auf weitere Abkömmlinge wurde ausgeschlossen (§ 2349 des Bürgerli­chen Gesetzbuchs ‑‑BGB‑‑).

In der Erbschaftsteuererklärung für den Erbfall nach dem Erblasser beantragte der Kläger die Gewährung eines Freibetrags in Höhe von 400.000 € gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 2 Alternative 2 des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuerge­setzes (ErbStG) i.V.m. § 15 Abs. 1 Steuerklasse I Nr. 2 ErbStG. Er war der An­sicht, dass er aufgrund der in § 2346 Abs. 1 Satz 2 BGB angeordneten zivil­rechtlichen Vorversterbensfiktion, nach der der verzichtende Vater so behan­delt wird, als würde er zur Zeit des Erbfalls nach dem Tod des Erblassers nicht mehr leben, als Kind eines verstorbenen Kindes im Sinne des § 16 Abs. 1 Nr. 2 Alternative 2 ErbStG anzusehen sei.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt ‑‑FA‑‑) vertrat die Auffassung, dass dem Kläger als Kindeskind des Erblassers gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 3 ErbStG nur ein Freibetrag in Höhe von 200.000 € zu gewähren sei und setzte entsprechend mit Bescheid vom 04.03.2021 Erbschaftsteuer fest. Der Be­scheid wurde am 19.07.2021 aus im Revisionsverfahren nicht streitigen Grün­den geändert.

Nach erfolglosem Einspruchsverfahren hat das Finanzgericht (FG) die Klage abgewiesen. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2022, 1118 veröffentlicht.

Mit seiner Revision macht der Kläger eine Verletzung von § 16 Abs. 1 Nr. 2 Alternative 2 ErbStG, § 2346 Abs. 1 Satz 2 BGB und Art. 3 Abs. 1 des Grund­gesetzes (GG) geltend. Da bei einem Erbverzicht der Verzichtende nach § 2346 Abs. 1 Satz 2 BGB von der gesetzlichen Erbfolge ausgeschlossen sei, sei diesem ein Erwerb von Todes wegen oder die Geltendmachung von Pflicht­teilsansprüchen nicht mehr möglich. Es könne daher ‑‑entgegen der Auffas­sung des FG‑‑ nicht zu einer doppelten Inanspruchnahme des Freibetrags ge­mäß § 16 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG in Höhe von 400.000 € kommen. Nur in dem Fall, dass der verzichtende Abkömmling testamentarisch bedacht würde, wäre die Gefahr einer doppelten Inanspruchnahme gegeben. Dies könnte von der Finanzverwaltung aufgrund der von Amts wegen durchzuführenden Übersen­dung der Eröffnungsniederschrift durch das Nachlassgericht überprüft werden.

Der Wortlaut des § 16 Abs. 1 Nr. 2 Alternative 2 ErbStG stehe der Annahme, dass eine Vorversterbensfiktion des § 2346 Abs. 1 Satz 2 BGB wie ein tatsäch­liches Vorversterben des Kindes des Erblassers behandelt werde, nicht entge­gen. Das Erbschaftsteuerrecht folge den Fiktionen des Zivilrechts, wenn nicht etwas anderes ausdrücklich angeordnet sei.

Zudem spreche auch die Absicht des Gesetzgebers, das Familienvermögen für die nächste Generation zu erhalten, für eine Gewährung des höheren Freibe­trags an den Enkel, wenn das Kind des Erblassers aufgrund der zivilrechtlichen Fiktion des § 2346 Abs. 1 Satz 2 BGB als vorverstorben gelte. Ansonsten könnte der erhöhte Freibetrag von niemandem in Anspruch genommen werden und ginge der gesamten familiären Linie verloren. Das Bundesverfassungsge­richt (BVerfG) habe in seinem Beschluss vom 22.06.1995 ‑ 2 BvR 552/91 (BVerfGE 93, 165, BStBl II 1995, 671) dargelegt, dass die Ausgestaltung und Bemessung der Erbschaftsteuer die Testierfreiheit wahren müsse und Sinn und Funktion des Erbrechts als Rechtseinrichtung und Individualgrundrecht nicht zunichte oder wertlos machen dürfe. Dies spreche dafür, den höheren Freibe­trag nach § 16 Abs. 1 Nr. 2 Alternative 2 ErbStG auch dem Kind eines nach § 2346 Abs. 1 Satz 1 BGB auf seinen Erbteil verzichtenden Elternteils bei Er­werb von den Großeltern zu gewähren.

Andernfalls liege eine gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßende verfassungsrechtli­che Ungleichbehandlung im Vergleich zu der Besteuerung des Erwerbs von Todes wegen bei tatsächlichem Vorversterben eines Abkömmlings des Erblas­sers vor, da in diesem Fall dem Enkel ein höherer Freibetrag gewährt werde. Das Ergebnis wäre, dem Enkel im vorliegenden Fall den höheren Freibetrag ohne Not zu versagen, obgleich der Vater als Abkömmling des Erblassers die­sen erhöhten Freibetrag aufgrund zulässiger erbrechtlicher Gestaltung nicht erhalte.

Der Kläger beantragt,
die Vorentscheidung aufzuheben und den Änderungsbescheid vom 19.07.2021 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 24.08.2021 dahingehend zu än­dern, dass die Erbschaftsteuer auf 0 € festgesetzt wird.

Das FA beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

II. Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Fi­nanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Das FG hat zutreffend entschieden, dass dem Kläger für den Erwerb von dem Erblasser lediglich ein Freibetrag gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 3 ErbStG in Höhe von 200.000 € zusteht. Der zivilrechtliche Erbver­zicht nach § 2346 Abs. 1 BGB durch den Vater des Klägers gegenüber dem Erblasser hat nicht bewirkt, dass der Vater des Klägers als "verstorben" im Sinne des § 16 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG anzusehen und dem Kläger der höhere Freibetrag von 400.000 € zu gewähren ist. Ein Verstoß gegen Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG liegt nicht vor.

1. Nach § 16 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG bleibt in den Fällen der unbeschränkten Steuerpflicht der Erwerb der Kinder im Sinne der Steuerklasse I Nr. 2 und der Kinder verstorbener Kinder im Sinne der Steuerklasse I Nr. 2 in Höhe von 400.000 € steuerfrei. Die Formulierung "… und der Kinder verstorbener Kin­der…" ist dahingehend zu verstehen, dass die Kinder des Erblassers tatsächlich verstorben sind. Die Vorversterbensfiktion des § 2346 Abs. 1 Satz 2 BGB be­wirkt nicht, dass das erbverzichtende Kind als "verstorbenes Kind" im Sinne des § 16 Abs. 1 Nr. 2 Alternative 2 ErbStG gilt und dessen Abkömmlinge den Freibetrag in Höhe von 400.000 € erhalten (gleicher Ansicht Eisele in Kapp/Ebeling, § 16 ErbStG, Rz 8; Halaczinsky in Daragan/Halaczinsky/Riedel, ErbStG, BewG, 4. Aufl., § 16 ErbStG Rz 2; Kugelmüller-Pugh in Viskorf/Schuck/Wälzholz, Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz, Bewertungsgesetz, 7. Aufl., § 16 ErbStG Rz 8/1; Birkenbeil/Holler, Zeitschrift für die gesamte erbrechtliche Praxis ‑‑ErbR‑‑ 2022, 652, 656).

a) Maßgebend für die Interpretation eines Gesetzes ist der in ihm zum Aus­druck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers. Der Feststellung des zum Ausdruck gekommenen objektivierten Willens des Gesetzgebers dienen die Auslegung aus dem Wortlaut der Norm (grammatikalische Auslegung), dem Zusammenhang (systematische Auslegung), ihrem Zweck (teleologische Auslegung) sowie den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte (historische Auslegung); zur Erfassung des Inhalts einer Norm darf sich der Richter dieser verschiedenen Auslegungsmethoden gleichzeitig und nebenei­nander bedienen. Insbesondere bei der Auslegung einer Norm aus ihrem Wort­laut ist zu berücksichtigen, dass diese nur eine von mehreren anerkannten Auslegungsmethoden ist, zu denen auch die systematische Auslegung zählt. Nach letzterer ist darauf abzustellen, dass einzelne Rechtssätze, die der Ge­setzgeber in einen sachlichen Zusammenhang gebracht hat, grundsätzlich so zu interpretieren sind, dass sie logisch miteinander vereinbar sind. Ziel jeder Auslegung ist die Feststellung des Inhalts einer Norm, wie er sich aus dem Wortlaut und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den sie hineingestellt ist (Ur­teil des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 13.09.2023 ‑ II R 49/21, BFHE 282, 313, BStBl II 2024, 566, Rz 17).

b) Bei Anwendung dieser Grundsätze ist das FG zu Recht davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen des § 16 Abs. 1 Nr. 2 Alternative 2 ErbStG bei ei­nem Erbverzicht nach § 2346 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht vorliegen.

aa) Der Wortsinn der Norm ist eindeutig. § 16 Abs. 1 Nr. 2 Alternative 2 ErbStG spricht von "verstorbenen Kindern" und nicht von "als verstorben gel­tenden Kindern". Nach dem klaren Wortlaut ist dieses Tatbestandsmerkmal der Vorschrift nur dann erfüllt, wenn das Kind tatsächlich verstorben ist, nicht aber, wenn es aufgrund einer gesetzlichen Fiktion als verstorben anzusehen ist, jedoch in Wirklichkeit noch lebt (vgl. Birkenbein/Holler, ErbR 2022, 652).

bb) Auch nach der systematischen Auslegung sind als gemäß § 2346 Abs. 1 Satz 2 BGB verstorben geltende Kinder von der Freibetragsregelung des § 16 Abs. 1 Nr. 2 Alternative 2 ErbStG nicht erfasst.

(1) Die Freibeträge sind nach § 16 Abs. 1 ErbStG für unbeschränkt Steuer­pflichtige dergestalt aufgebaut, dass diese ausgehend von dem persönlichen Verhältnis des Erwerbers zum Erblasser in Anlehnung an die Steuerklassen gestaffelt sind. Je näher das verwandtschaftliche Verhältnis ist, umso höher ist der Freibetrag. Den zweithöchsten Freibetrag nach den Ehegatten und Lebens­partnern (§ 16 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG; 500.000 €) erhalten grundsätzlich Kinder und die Kinder verstorbener Kinder im Sinne der Steuerklasse I Nr. 2 in Höhe von 400.000 € (§ 16 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG). Für die Enkel des Erblassers hat der Gesetzgeber einen Freibetrag in Höhe von 200.000 € vorgesehen, wenn die Kinder des Erblassers zum Zeitpunkt des Erbfalles noch leben (§ 16 Abs. 1 Nr. 3 ErbStG).

(2) Der Aufbau des § 16 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 ErbStG spricht somit dafür, dass durch die Gewährung höherer Freibeträge zunächst die Kinder des Erb­lassers begünstigt werden sollten, da der Gesetzgeber die familiäre Verbun­denheit zu den Abkömmlingen der ersten Generation als am stärksten ange­sehen hat. Erbt der Enkel des Erblassers und leben noch die direkten Ab­kömmlinge des Erblassers, sieht der Gesetzgeber die familiäre Verbindung als nicht mehr so eng an. Es wird aus diesem Grund ein geringerer Freibetrag ge­währt. Die in § 16 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 ErbStG umgesetzte Staffelung des Freibetrags zeigt, dass erst dann, wenn die direkt vorangehende Generation nicht mehr am Leben ist, die Verantwortung für das Auskommen der zweiten Generation dem Erblasser zukommt. Dem wird durch den auf 400.000 € er­höhten Freibetrag für "verwaiste Enkel" nach § 16 Abs. 1 Nr. 2 Alternative 2 ErbStG Rechnung getragen.

cc) Auch der Sinn und Zweck der Regelung erfordert im vorliegenden Fall nicht die Gewährung eines höheren Freibetrags im Sinne des § 16 Abs. 1 Nr. 2 Al­ternative 2 ErbStG. Die Begünstigung der Kinder und der Kinder vorverstor­be­ner Kinder nach § 16 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG dient dem verfassungsrechtlich ge­bote­nen Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) und verwirklicht das Fami­lienprinzip als Grenze für das Maß der Steuerbelastung. Danach ist die fa­miliä­re Verbundenheit der nächsten Angehörigen zum Erblasser oder Schenker erb­schaftsteuerrechtlich zu berücksichtigen. Der steuerliche Zugriff ist bei Fa­mi­lienangehörigen derart zu mäßigen, dass diesen der Nachlass zumindest zum deutlich überwiegenden Teil oder, bei kleineren Vermögen, völlig steuer­frei zugutekommt (vgl. z.B. BVerfG-Beschlüsse vom 22.06.1995 ‑ 2 BvR 552/91, BVerfGE 93, 165, BStBl II 1995, 671, unter C.I.2.b aa und vom 21.07.2010 ‑ 1 BvR 611/07, 1 BvR 2464/07, BVerfGE 126, 400, Rz 97 f.; BFH-Urteil vom 05.12.2019 ‑ II R 5/17, BFHE 267, 451, BStBl II 2020, 322, Rz 21). Hieraus folgt jedoch nicht, dass bei einem Verzicht des Kindes des Erblassers auf sei­nen gesetzlichen Erbteil nach § 2346 Abs. 1 Satz 1 BGB dessen Kind beim Tod des Erblassers der höhere Freibetrag nach § 16 Abs. 1 Nr. 2 Alter­na­tive 2 ErbStG zu gewähren ist. Denn zu berücksichtigen ist dabei auch, dass das Kind des Erb­lassers aufgrund gewillkürter Erbfolge nach wie vor neben sei­nem Kind, dem Enkel des Erblassers, zum Erben berufen werden könnte (s. hierzu unter II.2.b bb) und für den Unterhalt der Enkel des Erblassers weiter­hin sorgen kann.

dd) Auch aus der Historie der Norm ergibt sich keine andere Auslegung. Der Gesetzgeber stellte stets Kinder tatsächlich vorverstorbener Kinder durch die Ge­währung eines höheren Freibetrags besser, als Kinder, deren Eltern bei Tod des Großelternteils noch lebten.

(1) Für Erwerbe vor dem 01.01.1996 sah § 16 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG i.d.F. vom 17.04.1974 für alle Personen der Steuerklasse I mit Ausnahme der Ehegatten einen Freibetrag von 90.000 DM vor. Die Vorschrift unterschied dabei nicht zwischen Kindern verstorbener Kinder und nicht vorverstorbener Kinder.

(2) Aufgrund des BVerfG-Beschlusses vom 22.06.1995 ‑ 2 BvR 552/91 (BVerfGE 93, 165, BStBl II 1995, 671) erhöhte der Gesetzgeber für Erwerbe ab dem 01.01.1996 durch das Jahressteuergesetz 1997 (JStG 1997) vom 20.12.1996 (BGBl I 1996, 2049, BStBl I 1996, 1523) die persönlichen Freibe­träge zur Kompensation der veränderten Wertermittlung nach dem Bewer­tungsgesetz. Zudem wurde im Zuge der Neugliederung der Steuerklassen (§ 15 ErbStG) die Struktur der persönlichen Freibeträge verändert. Dabei soll­te sich die Freistellung am Wert eines durchschnittlichen Einfamilienhauses orientieren (BTDrucks 13/4839, S. 70). Nach § 16 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG i.d.F. des JStG 1997 blieb nunmehr ein Erwerb der Kinder im Sinne der Steuerklas­se I Nr. 2 und der Kinder verstorbener Kinder im Sinne der Steuerklasse I Nr. 2 in Höhe von 400.000 DM steuerfrei; ein Erwerb von Kindern nicht vor­verstorbener Kinder wurde nur in Höhe von 100.000 DM freigestellt (§ 16 Abs. 1 Nr. 3 ErbStG i.d.F. des JStG 1997). Die Freibeträge wurden in der Folge mehr­mals angepasst. Durch das Erbschaftsteuerreformgesetz vom 24.08.2008 (BGBl I 2008, 3018) wurden schließlich die aktuell geltenden Freibeträge in § 16 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG (400.000 €) und in § 16 Abs. 1 Nr. 3 ErbStG (200.000 €) eingefügt. Dabei stellte der Gesetzgeber stets Kinder vorver­stor­bener Kinder durch die Gewährung eines höheren Freibetrags besser, als Kin­der, de­ren Eltern bei Tod des Großelternteils noch lebten.

ee) Zu einer anderen Auslegung des § 16 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG führt nicht, dass auch andere zivilrechtliche Bestimmungen ‑‑wie beispielsweise die Erbaus­schlagung nach § 1953 BGB oder die Erklärung der Erbunwürdigkeit gemäß § 2344 Abs. 1 BGB‑‑ zur Vorversterbensfiktion führen. Vielmehr ist bei jeder Norm eine eigene erbschaftsteuerrechtliche Auslegung durchzuführen. Die erb­schaftsteuerrechtliche Behandlung weicht hier teilweise von der Systematik des Zivilrechts ab. Dies ist zulässig und entspricht dem gesetzgeberischen Wil­len (vgl. BFH-Beschluss vom 28.06.2023 ‑ II B 79/22, BFH/NV 2023, 1069, Rz 13).

2. Eine analoge Anwendung des § 16 Abs. 1 Nr. 2 Alternative 2 ErbStG auf Enkel des Erblassers aufgrund der Fiktion des § 2346 Abs. 1 Satz 2 BGB kommt nicht in Betracht.

a) Eine erweiternde Auslegung setzt eine Regelungslücke voraus. Die Norm muss gemessen an ihrem Zweck unvollständig, das heißt ergänzungsbedürftig sein. Ihre Ergänzung darf nicht einer vom Gesetzgeber beabsichtigten Be­schränkung auf bestimmte Tatbestände widersprechen. Dass eine gesetzliche Regelung rechtspolitisch als verbesserungsbedürftig anzusehen ist ("rechtspo­litische Fehler"), reicht nicht aus. Die Unvollständigkeit muss sich vielmehr aus dem gesetzesimmanenten Zweck ergeben und kann auch bei einem eindeuti­gen Wortlaut vorliegen (BFH-Urteil vom 10.05.2023 ‑ II R 24/21, BFHE 281, 149, BStBl II 2023, 1060).

b) Nach diesen Grundsätzen ist eine analoge Anwendung nicht geboten.

aa) Es fehlt bereits an einer Regelungslücke. Sinn und Zweck der Regelung des § 16 Abs. 1 Nr. 2 Alternative 2 ErbStG ist, dass ein Enkel des Erblassers als entfernterer Abkömmling den höheren Freibetrag erhält, wenn das Vermö­gen wegen des vorzeitigen Todes des Kindes des Erblassers auf diesen über­geht (s. hierzu oben II.1.a bb). Diese Vergünstigung ist nicht geboten, wenn der Abkömmling des Erblassers noch lebt und weiterhin für die finanzielle Aus­stattung seines Kindes, das heißt des Enkels des Erblassers, sorgen kann, was bei seinem tatsächlichen Vorversterben nicht der Fall wäre.

bb) Die analoge Anwendung des § 16 Abs. 1 Nr. 2 Alternative 2 ErbStG würde zudem eine legale Steuerumgehungsmöglichkeit schaffen, die geeignet wäre, die Staffelung der Freibetragsregelung des § 16 Abs. 1 Nr. 2 Alternative 2 und Nr. 3 ErbStG auszuhöhlen. Denn das Kind des Erblassers kann trotz seines Verzichts nach § 2346 Abs. 1 Satz 1 BGB aufgrund gewillkürter Erbfolge von dem Erblasser zum Erben berufen werden. In diesem Fall könnten sowohl das Kind als auch der Enkel des Erblassers jeweils den Freibetrag nach § 16 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG in Höhe von 400.000 € in Anspruch nehmen. Allein die Möglich­keit des Eintritts einer Doppelbegünstigung ist ausreichend, um eine analoge Anwendung der Regelung auszuschließen, sodass es nicht darauf ankommt, ob im vorliegenden Fall tatsächlich eine Doppelbegünstigung ausgeschlossen ist.

3. Dieses Ergebnis ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Es liegt we­der ein Verstoß gegen Art. 14 Abs. 1 Satz 1 Alternative 2 GG noch gegen Art. 3 Abs. 1 GG vor.

a) Das nach Art. 14 Abs. 1 Satz 1 Alternative 2 GG grundgesetzlich gewähr­leistete Erbrecht wird nicht verletzt.

aa) Die Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 Alternative 2 GG gewähr­leistet das Erbrecht als Rechtsinstitut und als Individualrecht. Nach dem BVerfG überlässt Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG dem Gesetzgeber, Inhalt und Schranken des Erbrechts zu bestimmen, wobei er eine weitreichende Gestal­tungsbefugnis hat (BVerfG-Beschluss vom 22.06.1995 ‑ 2 BvR 552/91, BVerfGE 93, 165, BStBl II 1995, 671, unter C.I.2.a cc). Hinsichtlich der Freibe­träge führt das BVerfG aus, dass der erbschaftsteuerliche Zugriff bei Familien­angehörigen im Sinne der Steuerklasse I (§ 15 Abs. 1 ErbStG) derart zu mäßi­gen ist, dass jedem dieser Steuerpflichtigen der jeweils auf ihn übergehende Nachlass ‑‑je nach dessen Größe‑‑ zumindest zum deutlich überwiegenden Teil oder, bei kleineren Vermögen, völlig steuerfrei zugutekommt. In Bezug auf einen darüberhinausgehenden Vermögenszuwachs ist der erbschaftsteuerliche Zugriff so zu beschränken, dass eine im Erbrecht angelegte Mitberechtigung der Kinder am Familiengut nicht verlorengeht (BVerfG-Beschluss vom 22.06.1995 ‑ 2 BvR 552/91, BVerfGE 93, 165, BStBl II 1995, 671, unter C.I.2.b aa).

bb) Danach verstößt die Auslegung, dass die Freibetragsregelung des § 16 Abs. 1 Nr. 2 Alternative 2 ErbStG in Höhe von 400.000 € dem Enkel bei einem Erbverzicht des Kindes des Erblassers trotz der Fiktion des § 2346 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht zu gewähren ist, nicht gegen Art. 14 Abs. 1 GG. Der Enkel erhält danach den Freibetrag gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 3 ErbStG in Höhe von 200.000 €. Es wird erbschaftsteuerlich nicht schlechter gestellt, als wenn das Kind des Erblassers ‑‑wie es tatsächlich der Fall ist‑‑ noch lebte. Es ist nicht ersichtlich, warum die vom Erblasser und seinem Kind gewählte Gestaltung des Erbverzichts gemäß § 2346 Abs. 1 Satz 1 BGB nach Art. 14 Abs. 1 GG ein anderes Ergebnis zu Gunsten des Enkels des Erblassers erfordert, zumal sich der Verzicht lediglich auf das gesetzliche Erbrecht bezieht, sodass das verzich­tende Kind bei gewillkürter Erbfolge noch den Freibetrag nach § 16 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG in Höhe von 400.000 € neben dem Enkel des Erblassers in An­spruch nehmen könnte (s. hierzu unter II.2.b bb).

b) Es liegt auch kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vor.

aa) Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG belässt dem Gesetz­geber einen weitreichenden Entscheidungsspielraum sowohl bei der Auswahl des Steuergegenstands als auch bei der Bestimmung des Steuersatzes. Abwei­chungen von der mit der Wahl des Steuergegenstands einmal getroffenen Be­lastungsentscheidung müssen sich indessen ihrerseits am Gleichheitssatz mes­sen lassen (Gebot der folgerichtigen Ausgestaltung des steuerrechtlichen Aus­gangstatbestands). Demgemäß bedürfen sie eines besonderen sachlichen Grundes, der die Ungleichbehandlung zu rechtfertigen vermag. Dabei steigen die Anforderungen an den Rechtfertigungsgrund mit Umfang und Ausmaß der Abweichung (vgl. BVerfG-Beschluss vom 23.06.2015 ‑ 1 BvL 13/11, 1 BvL 14/11, BVerfGE 139, 285, BStBl II 2015, 871, Rz 72, m.w.N.).

bb) Vorliegend fehlt es bereits an vergleichbaren Sachverhalten. Die Fallgrup­pen "Kinder tatsächlich verstorbener Kinder" und "Kinder von als fiktiv ver­storben geltenden Kindern" können nicht gleichgesetzt werden. Wie unter II.2.b bb des Urteils dargelegt, können nach § 2346 Abs. 1 Satz 1 BGB fiktiv als verstorben geltende Kinder nach wie vor Erwerber aufgrund gewillkürter Erbfolge sein und den Freibetrag nach § 16 Abs. 1 Nr. 2 Alternative 1 ErbStG erhalten, wohingegen dies für tatsächlich verstorbene Kinder nicht möglich ist. Dies rechtfertigt eine abweichende Beurteilung bei der Gewährung des Freibe­trags.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.

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